Andris Nelsons: „Tanglewood bedeutet pure Freude an der Musik“
Lenox/Wien (APA) - Andris Nelsons trägt einen Strickpulli mit Amerika-Flagge. Der Sommer des lettischen Dirigenten, der mit seinen 39 Jahren...
Lenox/Wien (APA) - Andris Nelsons trägt einen Strickpulli mit Amerika-Flagge. Der Sommer des lettischen Dirigenten, der mit seinen 39 Jahren bereits seit längerem am Chefpult des Boston Symphony und mittlerweile auch des Leipziger Gewandhausorchesters steht, gehört - nach einem philharmonischen Abstecher zu den Salzburger Festspielen - dem Tanglewood-Festival.
Es ist der Sommersitz des Boston Symphony, Pilgerstätte für Hunderttausende US-Musikliebhaber und zentrale Weihestätte für die Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag von Leonard Bernstein am kommenden Sonntag. Im APA-Gespräch in Tanglewood, in Lenox, Massachusetts, spricht Nelsons über Musikfreuden jenseits der Elite, seine Abstinenz von der Oper und über „Lenny“.
APA: Das Erlebnis Tanglewood ist schwer zu beschreiben. Heuer ist Ihr dritter Sommer hier - wie ging es Ihnen beim ersten Mal?
Nelsons: So wie es wahrscheinlich jedem beim ersten Mal geht. Es ist unglaublich aufregend, die Stimmung ist großartig. Ich hatte schon viel davon gehört, auch in Europa kennt man ja irgendwie den Namen des Festivals, aber das Phänomen Tanglewood kann man erst verstehen, wenn man hier ist.
APA: Was macht dieses besondere Phänomen aus?
Nelsons: Viele Faktoren. Da ist zum Beispiel der Stellenwert der zeitgenössischen Musik, der hier völlig selbstverständlich ist. Die Akustik in diesem einfachen Schuppen, die besser ist als in vielen elitären Konzerthallen. Die Natur, die mit der Musik ja so viel zu tun hat - wie oft war sie Inspiration oder Metapher für die Komponisten! Aber das Wichtigste ist: Das Orchester liebt es hier, das Publikum liebt es hier. Das macht eine wunderbare Atmosphäre, bei der es nicht darum geht, etwas darzustellen, sich etwas zu leisten oder irgendwo dazuzugehören, sondern Tanglewood bedeutet die pure Freude an der Musik.
APA: Für Sie und das Orchester sind es allerdings anstrengende Wochen - mit drei oder sogar vier Programmen pro Wochenende. Und unmittelbar danach steht die Europatournee an.
Nelsons: Dazwischen eröffne ich noch die Saison im Gewandhaus in Leipzig.
APA: Wie geht sich das aus?
Nelsons: Ganz wunderbar. Ich bin freier als je zuvor. Die Gastdirigate waren viel aufwendiger und anstrengender, jetzt arbeite ich zwar viel, aber sehr fokussiert.
APA: Sie gastieren gar nicht mehr?
Nelsons: Sehr wenig. Eigentlich nur noch bei den Wiener Philharmonikern.
APA: Und die Oper? Geht sie Ihnen nicht ab?
Nelsons: Ich vermisse sie als Genre, aber ich vermisse nicht, wie Oper derzeit gemacht wird. Es ist ein wundervolles Genre. Wenn es funktioniert, ist es die größte Kunstform überhaupt. Aber es gibt bei der Oper immer so viele Intrigen, so viele Spielchen, in die ich nicht involviert sein möchte. Wir machen in Boston Oper konzertant. Und vielleicht kommt es ja später einmal wieder.
APA: Der Sommer in Tanglewood war voller Bernstein - zum Abschluss kommt die große Gala. Auch die Eröffnung in Leipzig und die Europatournee mit den Bostonern enthält Bernstein. Wie ist Ihr Verhältnis zu „Lenny“?
Nelsons: Ja, so nennt ihn hier jeder, weil ihn sehr viele persönlich gut gekannt haben. Ich war ein Teenager, als er starb, und bin hinter dem Eisernen Vorhang aufgewachsen - habe davon also zunächst einmal nichts mitbekommen. Tatsächlich waren die Namen Karajan und Bernstein aber ziemlich das Erste, was nach dem Fall des Vorhangs musikalisch zu uns gedrungen ist. Ich machte Bekanntschaft mit seinen Young People‘s Concerts - in ihnen erlebt man schon sein riesiges Genie. Noch mehr beeindruckt mich bis heute die Videoaufnahme von Mahler mit den Wiener Philharmonikern. Ich halte sie, so lebendig und emotional, für die beste Mahler-Aufnahme überhaupt.
APA: Bernstein hat eine Haltung stark verkörpert, die man in Tanglewood auch den Nachwuchsmusikern vermitteln möchte: Ein Sinn für Humanismus, für Zusammenhalt und Gemeinschaft. Wie lässt sich das aufrechterhalten in der Ära Trump, in der die USA tief gespalten sind?
Nelsons: Gerade da muss man es aufrechterhalten. In der Musik lernen wir, uns einem größeren Ganzen unterzuordnen. Dirigieren ist immer auch kommunizieren - denn Musik ist unsere Sprache, aber das was wir sagen, geht weit über Musik hinaus. Da war Bernstein ein wunderbares Vorbild. Ich bin aber - vielleicht aufgrund meiner Herkunft - kein Freund davon, Musik und eine politische Haltung zu verknüpfen. Musik ist größer als Politik.