Vernachlässigung des ärztlichen Nachwuchses: Hausarztmangel
„Wir haben zuwenige Hausärzte, aber eine ‚irre‘ hohe Ärztedichte“, erklärte eine Grazer Expertin. Die Strukturen in der medizinischen Primärversorgung seien zum Davonlaufen.
Alpbach, Wien – Der österreichischen Gesundheitspolitik könnte die Zeit zum Aufbau neuer Strukturen in der medizinischen Primärversorgung davonlaufen. „Jetzt brennt‘s lichterloh“, warnte am Dienstag bei den Alpbacher Gesundheitsgesprächen die Grazer Expertin Andrea Siebenhofer-Kroitzsch (MedUni Graz).
„Wenn wir die Lage in Österreich anschauen, dann ist Österreich ein Land mit schwacher Primärversorgung. Die Versorgung ist auf den sekundären Sektor (Spitäler; Anm.) zentriert. Der Zugang zur medizinischen Versorgung ist ungezügelt. Das ist ein Riesenproblem“, sagte Siebenhofer-Kroitzsch.
In der Betreuung multimorbider und chronisch kranker, betagter Menschen sei der allein arbeitende Hausarzt nicht mehr zeitgemäß. Es sei kein Wunder, wenn nun die Hausärzte auch noch schlichtweg fehlten. „Wir haben uns auch nie um den ärztlichen Nachwuchs gekümmert. Jetzt brennt‘s lichterloh. Wir haben zuwenige Hausärzte, aber eine ‚irre‘ hohe Ärztedichte“, erklärte die Expertin.
Gesundheitsministerin Beate Hartinger-Klein (FPÖ) betonte die Dringlichkeit von Reformschritten im Gesundheitswesen und in der medizinischen Versorgung: „Wenn die Menschen im Burgenland 63 Jahre ein gesundes Leben erwarten können und die Menschen in Tirol ein gesundes Leben für 71 Jahre, haben wir Handlungsbedarf. Wir haben eine hohe Krankenhaushäufigkeit (Spitalsaufnahmen; Anm.) und eine hohe Ärztedichte.“
Dies spreche für akute Probleme im Management und in der Steuerung im Gesundheitssystem, sagte die Ressortchefin. Der in Ausarbeitung befindliche neue Gesamtvertrag für Primärversorgungseinheiten, Änderungen im Verhältnis der Ausbildungsstellen für Allgemeinmediziner und Fachärzte, die Lehrpraxen, die geplanten 75 Primärversorgungszentren in ganz Österreich und die in Zukunft geplante Möglichkeit zur Anstellung von Ärzten durch Ärzte seien geeignet, die Probleme zu bewältigen.
Vergleichsstudien von Matthias Wismar (European Observatory on Health Systems and Policies/Brüssel) belegen laut dem Experten in ganz Europa und vergleichbaren außereuropäischen Staaten mehrere Trends: „Es gibt überall einen Trend zu einer besseren Koordination, einen Drang zum Teamwork. In elf von zwölf europäischen Staaten sieht man, dass einfache medizinische Routineaufgaben an nicht-ärztliches Personal delegiert werden.“
Dass Einrichtung und Betrieb eines Primärversorgungszentrums für alle Beteiligten ein Umdenken und eine Neuorientierung bedeutet, stellte die Allgemeinmedizinerin Katharina Winkler (Primärersorgungszentrum Enns/Oberösterreich) dar: „Es ist nicht nur ‚Hausarzt+‘. Es ist mehr und etwas anstrengender.“ Ärzte müssten oft erst Teamarbeit mit anderen Berufsgruppen lernen. Und schließlich hätten in Enns bereits drei Krankenschwestern den Betrieb wieder verlassen, weil ihnen die Arbeitsweise nicht gefallen habe. (APA)