Hermann Nitsch: Der blutige Pionier
Der Maler und Aktionskünstler Hermann Nitsch hat mit seiner Kunst schon viele Gemüter erhitzt. Heute wird der umstrittene, aber gleichwohl gefeierte Künstler 80 Jahre alt.
Von Gerlinde Tamerl
Innsbruck –Eine Menschenmenge wühlt in toten Tierkörpern, holt Gedärme hervor. Einer überschüttet die Meute kübelweise mit Tierblut. Mittendrin liegt ein blutüberströmter Gekreuzigter.
Hier wird nicht eine blutrünstige Szene aus der Erfolgsserie „Game of Thrones“ beschrieben, sondern es handelt sich um eine Momentaufnahme aus dem „Orgien-Mysterien-Theater“ des Künstlers Hermann Nitsch, der heute seinen 80. Geburtstag feiert.
1938 in Wien geboren, geriet Nitsch als Wiener Aktionist ins Kreuzfeuer der Kritik. Er stand wegen Gotteslästerung mehrfach vor Gericht, bis er Österreich 1968 den Rücken kehrte und nach Deutschland übersiedelte. Nitschs Idee zu seinem „Orgien-Mysterien-Theater“ entstand schon früh, etwa zur gleichen Zeit, als die Performance-Kunst sich zu etablieren begann. Neben der Verbindung von Malerei und Musik rückte die sinnliche Körpererfahrung in den Mittelpunkt des künstlerischen Geschehens.
Nitschs blutiges Schauspiel verstört, selbst noch auf You-Tube-Videos. Wie dieses Spektakel auf den Betrachter wirkt, davon kann der Tiroler Künstler Anton Christian berichten. Er erlebte in den 70er-Jahren eine der ersten Aufführungen auf Schloss Prinzendorf mit. Christian (Jg. 1940) erinnert sich: „Natürlich wusste ich schon vorher, wie provokativ Nitschs Arbeit wirkte. Das Ausweiden eines Tieres, die brutale Beschmutzung der Protagonisten, die intensive Musik, das ging mir freilich unter die Haut. Geekelt hat es mich nicht, aber mitgemacht hätte ich nicht.“
Das „Orgien-Mysterien-Theater“ stellt die Enthemmtheit des Menschen zur Schau. Die Kunsthistorikerin Xenia Ressos von der Uni Innsbruck erklärt: „Provokation und Tabu-Bruch sind Nitschs zentrale Mittel. Durch visuelle Massaker und eine zum Teil degradierende Inszenierung emotional aufgeladener Inhalte versetzt Nitsch den Betrachter in einen Ausnahmezustand.“ Dieser Ausnahmezustand bringt trotz des Ekelfaktors alle Sinne in Schwingung. Anton Christian würdigt seinen Künstlerkollegen: „Er war der Erste, der auf eine breit angelegte Sinneswahrnehmung hingearbeitet hat.“ Nitsch bestätigt dieses Anliegen in einem Interview, wenn er sagt, er habe sich „sein Leben lang für die sinnliche Malerei begeistert, sich für die Substanz der Farbe und der Materialien interessiert“. Synthetisch hergestellte Farben waren ihm wohl zu steril. Er wollte seine Kunst durch etwas bereichern, in dem das Leben kurz zuvor noch pochte, und entschied sich für Gedärme, Fleisch und Blut.
In den 70ern kehrte der Künstler nach Österreich zurück und erwarb mithilfe einer Erbschaft das Schloss Prinzendorf (NÖ). Das barocke Anwesen wurde zum zentralen Austragungsort seines „Orgien-Mysterien-Theaters“. Jahrzehntelang sorgten die Inszenierungen für Aufregung. Besonders die Verwendung christlicher Symbolik wurde als blasphemisch kritisiert.
Nitsch ließ sich nicht entmutigen. Sein künstlerischer Tatendrang ist noch heute ungebrochen. Für 2020 plant er eine Sechs-Tage-Orgie, bei der viel Blut fließen wird. Einen Vorgeschmack gibt das Nitsch-Museum in Mistelbach mit der „Aktion mit Sinfonie“. Das künstlerisch-musikalische Happening findet am 1. September statt und ist ausverkauft. Die Popularität von Hermann Nitsch ist unbestritten, sein Erfolg bestaunenswert. Längst ist er zu einem international anerkannten Künstler avanciert. In vielen berühmten Museen hängen seine Werke, etwa im „Museum of Modern Art“ in New York. Die Würdigung in Österreich kam für ihn jedoch spät. Erst 2005 verlieh man ihm den Staatspreis und einen Professoren-Titel.
Ressos weist auf die außergewöhnliche Karriere von Hermann Nitsch hin: „Nur wenige zeitgenössische Künstler aus Österreich haben in der internationalen Kunstszene ein ähnliches Maß an Anerkennung erreichen können.“ Offenbar befriedigt Nitsch, ähnlich wie so manche Krimiserie, die Lust des Publikums auf Blutrünstiges. Ob seine Kunst Ekel hervorruft oder nicht, bleibt Geschmackssache.
Eines ist sicher: Nitsch ist ein genialer Vermarktungskünstler. Das stellt auch Anton Christian fest: „Vermarktet wurden anfänglich nur die ‚echten‘ Relikte und Fotos aus dem Orgien-Mysterien-Theater, erst später die so genannten Schüttbilder, die ich sehr mag. Weniger Verständnis habe ich für die Arbeiten, die bei seinen Malaktionen entstanden: abstrakte Bilder, schön bemalte Hemden. Da fehlt mir die Wucht seiner frühen, wichtigen Werke.“
Wie nimmt eine junge Künstlergeneration Nitsch wahr? Die 24-jährige Janine Weger ist beeindruckt. Die Ästhetik der Schüttbilder fasziniert sie, aber die Vegetarierin würde es aus ethischen Gründen ablehnen, mit Tierblut zu arbeiten.
Für Nina Tabassomi, die Direktorin des Taxispalais, hatte Nitsch großen Einfluss: „Er hat eine zentrale Verschiebung der ästhetischen Erfahrung mit eingeleitet: von der distanzierten Betrachtung hin zu Formen körperlicher Teilhabe und des Schocks. Die Frage, welchen Bezugsrahmen wir für unsere Reaktionen in Kunstereignissen heranziehen – den lebensweltlichen oder einen ästhetischen – ist seither nicht mehr aus den Künsten wegzudenken.“