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“The Other Side Of The Wind“: Letzter Streich des Wunderkindes

Vor seinem Tod 1985 konnte Orson Welles nur 45 Minuten von „The Other Side Of The Wind“ fertig stellen.
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Netflix macht’s möglich: 50 Jahre nach Produktionsbeginn kommt Orson Welles’ „The Other Side Of The Wind“ beim Filmfestival von Venedig zur Weltpremiere.

Von Joachim Leitner

Venedig, Innsbruck – Noch bevor Orson Welles mit „Citizen Kane“ (1941) das amerikanische Erzählkino revolutionierte, galt der gerade einmal 26-Jährige in Hollywood als Wunderkind. Sieben Jahre und vier von den jeweiligen Studios verstümmelte Filme später kehrte Welles der Traumfabrik den Rücken. Der Bilderstürmer war zum kaum kalkulierbaren Risiko geworden. Bis auf wenige Ausnahmen – „Im Zeichen des Bösen“ (1958) – entstanden Welles’ weitere Filme unter abenteuerlichen Bedingungen in Europa. In Spanien etwa, wo er zehn Jahre lang an einem letztlich unvollendeten „Don Quichotte“-Film bastelte und „Falstaff“ (1965) drehte, brachte er einen ersten Scriptentwurf für einen Film zu Papier, der sich als einigermaßen ätzende Abrechnung mit Literaturnobelpreisträger Ernest Hemingway lesen lässt: Ein alternder Künstler sucht durch die Nähe zu einem aufstrebenden Stierkämpfer jene kreative Kraft, die ihn einst berühmt machte.

Weiterverfolgt hat Welles das Projekt zunächst nicht. Erst Ende der 1960er-Jahre griff er die Idee wieder auf. Hemingway hatte seinem Leben inzwischen ein Ende gesetzt, Welles’ Interesse am Stierkampf war erloschen, aber seine Enttäuschung über Hollywood war weiter angewachsen. „The Other Sid­e Of The Wind“ sollte nun zum Film über das Filmemachen werden. Welles wollte vom alten und vom neuen Kino erzählen – und von einem Filmemacher, der weder im einen noch im anderen seinen Platz fand. Kurz: Inzwischen ging es um ihn selbst. Das gestand er auch dem Regie-­Veteran John Huston, den er letztlich als Protagonisten besetzte: „Es ist ein Film über einen Bastard, der völlig von sich eingenommen ist, der Menschen fängt und erschafft und dann zerstört. Es geht um uns, John.“

Sechs Jahre – zwischen 1970 und 1976 – hat Welles an „The Other Side Of The Wind“ gearbeitet: Ihm schwebte eine satirische Melange aus dokumentarischen Passagen, Film-im-Film und Künstlermelodram vor. Beenden konnte Welles das Unterfangen nicht. Knapp 45 Minuten Film soll er vor seinem Tod 1985 fertig geschnitten haben. Etwa 1000 belichtete Filmrollen verschwanden mit zahllosen Notizen in einem Archiv in Paris. Anderes wurde in Los Angeles eingelagert. Veröffentlicht wurde wenig. Ein Rechtsstreit mit mutmaßlichen Geldgebern tat sein Übriges. „The Other Side Of The Wind“ wurde zum legendenumrankten „Lost Movie“.

2015 sammelte eine Online-Kampagne knapp 400.000 Dollar für die Fertigstellung des Films. Zwei Jahre später legte Streamingdienst Net­flix eine unbekannte Summe drauf – und sicherte sich gleich die weltweiten Rechte am fertigen Film. Das Material wurde gesichtet und gesäubert. Produzent Frank Marshall und Peter Bogdanovich, der in „The Other Side Of The Wind“ auch eine Nebenrolle spielt, verantworteten den Schnitt. Der dreifache Oscar-Preisträger Michel Legrand komponierte neue Filmmusik. Anfang 2018 teilte Netflix mit, dass der Film nun fertig sei. Im Mai dieses Jahres hätte „The Other Side Of The Wind“ beim Filmfestival von Cannes uraufgeführt werden sollen. Doch der Streit zwischen Netflix und dem Festival, das sich um die Zukunft französischer Kinobetreiber sorgte, verhinderte den Coup.

Das gestern Abend gestartete Filmfestival in Venedig sprang – nicht ganz uneigennützig – ein. Gut 50 Jahre nach Produktionsbeginn kommt Orson Welles’ letzter Streich dort heute Donnerstag zur Weltpremiere. Begleitend wird auch „They’ll Love Me When I’m Dead“ gezeigt. Die Doku zeichnet die Entstehung des Films nach. Ende Oktober sollen beide Filme auf Netflix abrufbar sein. In den USA soll „The Other Side Of The Wind“ davor kurz ins Kino kommen.

Berührungsängste mit Strea­minganbietern gibt es in Venedig nicht: Festivaldirektor Alberto Barbera hat insgesamt sechs Netflix-Produktionen ans Lido geladen. „Roma“ von Alfonso Cuarón, „22 July“ von Paul Greengrass und „The Ballad of Buster Scruggs“ von Joe­l und Ethan Coen laufen sogar im Wettbewerb. „Es ergibt keinen Sinn, guten Filmen die Chance auf einen Goldenen Löwen zu verwehren“, erklärte Barbera dazu. Italiens Kinobetreiber sehen die Sache naturgemäß anders – und haben Proteste angekündigt.