Gefahr eines ungeordneten EU-Austritts Großbritanniens wächst
London (APA/Reuters) - Sicher ist sicher: Trotz gebetsmühlenartig vorgetragener Zuversicht, dass Großbritannien die Europäische Union am 29....
London (APA/Reuters) - Sicher ist sicher: Trotz gebetsmühlenartig vorgetragener Zuversicht, dass Großbritannien die Europäische Union am 29. März 2019 auf geordnetem Weg verlassen wird, bereitet die Londoner Regierung Wirtschaft und Bürger auf das Szenario eines ungeordneten Abschieds vor. Dafür hat sie mehr als 80 Papiere veröffentlicht, in denen die möglichen Konsequenzen Folgen eines „no deal“ dargelegt werden.
Die Vorbereitung auf einen wilden Brexit laufen auch deshalb an, weil die Zeit bis zum EU-Gipfel im Oktober allmählich knapp wird, bei dem eigentlich ein Austrittsabkommen unter Dach und Fach gebracht werden sollte. Eine Verlängerung der Gespräche bis in den Dezember hinein ist im Gespräch. Eile ist deshalb geboten, weil der EU-Austritt Großbritanniens am 29. März 2019 über die Bühne gehen soll und zuvor das britische und das EU-Parlament einem Abkommen zustimmen müssen.
DIE WEICHE VARIANTE
Für die britische Regierung und die EU ist ein geordneter Brexit mit klaren Vereinbarungen zu den Regeln des Abschieds der „Plan A“. Auch die meisten Hardliner in London befürworten diesen Weg. Damit enden allerdings die Gemeinsamkeiten im Lager der britischen Konservativen. Denn Premierministerin Theresa May befürwortet einen „weichen“ Brexit, bei dem es eine 21-monatige Übergangsfrist gibt, in der bestimmte EU-Regeln weiter gelten und vor allem die Handelsbeziehungen des Königreichs zum größten Binnenmarkt der Welt nicht abrupt abgeschnitten werden sollen. Im Gegenzug könnte das Königreich weiter Beiträge in den EU-Haushalt zahlen, ohne aber ein Mitspracherecht zu haben.
DER HARTE SCHNITT
Die Brexit-Hardliner wollen dagegen die größtmögliche Unabhängigkeit von der EU, und zwar im besten Fall vom 30. März 2019 an. Großbritannien wäre dann an EU-Regeln und die EU-Gerichtsbarkeit nicht mehr gebunden, könnte Freihandelsabkommen mit anderen Ländern abschließen und den Zuzug von EU-Bürgern ins Königreich nach eigenen Vorstellungen begrenzen. Das wäre also der „harte“ Brexit, vor dem sich vor allem die Wirtschaft wegen der Auswirkungen auf Handelsbeziehungen und die gegenseitige Anerkennung von Regeln fürchtet.
May hat die Hardliner innerhalb der Regierung durch den Abschied von David Davis und Boris Johnson zwar zuletzt zurückgedrängt, verschwunden sind sie deshalb aber noch lange nicht. Zudem verschwimmen die Linien zwischen „hartem“ und „weichem“ Brexit bei Äußerungen britischer Konservativer häufig, weil sich beide Lager Spielraum für die Verhandlungen in Brüssel und für Positionierungen in der Partei offen halten wollen.
„NO DEAL“: MEHR ALS EIN „SPAZIERGANG IM PARK“?
Sollte weder eine Vereinbarung über einen „weichen“ noch einen „harten“ Brexit zustande kommen, stünde ein wilder, ungeordneter Austritt Großbritanniens im Raum. Dieses Szenario eines „no deal“ könnte auch dann eintreten, wenn etwa das britische Parlament der Einigung zwischen Regierung und EU nicht zustimmt. In dem Fall wären am 30. März 2019 bisher geltende Regeln wie die Landerechte für Flugzeuge bis zu Finanztransaktionen und der Umgang mit Berufspendlern an der irisch-nordirischen Grenze außer Kraft gesetzt. Nach Mays Ansicht wäre das zwar kein „Spaziergang im Park“, aber auch „kein Weltuntergang“. Der irische Außenminister Simon Coveney warnte im Reuters-Interview indes vor einer solchen Einschätzung und nannte diese eine „Verhandlungsposition“.
Den sofortigen Ausbruch von Anarchie bedeutet ein wilder Brexit aber nicht, denn auch in dem Fall greifen Vorschriften: Großbritannien würde etwa in Handelsfragen gegenüber der EU auf den Status eines jeden anderen WTO-Mitglieds zurückfallen. Auch beim Thema Sicherheit würde sich fundamental nichts ändern, denn das Königreich ist schon jetzt kein Mitglied des Schengen-Raums und bleibt Mitglied der NATO. Dennoch sind die Folgen - nicht zuletzt an den Finanzmärkten - eines ungeordneten Brexit unabsehbar.
EINE KURZE EINIGUNG ZUM LANGEN ABSCHIED?
Als weitere mögliche Option käme angesichts des Horrorszenarios eines „no deal“ eine Verschiebung des Showdowns ins Spiel. Denn Artikel 5 der EU-Verträge besagt, dass die zweijährige Frist bis zum Abschluss der Austrittsverhandlungen verlängert werden kann. Voraussetzung ist allerdings, dass dem alle 27 verbleibenden EU-Länder und Großbritannien zustimmen. Angesichts der unabsehbaren Folgen eines ungeordneten Abschieds könnten sich die 28 Staaten auf einem Sondergipfel tatsächlich zu einem solchen Schritt entschließen. Einzig die britischen Brexit-Hardliner dürften gegen diese Option wettern, weil ihr Land damit vorerst an die EU gebunden bliebe. Genauso vehement stemmen sie sich gegen ein fünftes Szenario, das theoretisch möglich, aber derzeit nicht absehbar ist: Ein erneutes Referendum zum EU-Austritt.