Nach Ausschreitungen: Chemnitz kämpft gegen hässliches Image
Ein Mensch wird in Chemnitz getötet. Rechte Gruppen instrumentalisieren die Gewalttat und geben der Stadt ein hässliches Gesicht. Doch ist das Chemnitz?
Von Martin Kloth, dpa
Chemnitz – Am 1. Mai war es ein riesiges Banner gegen eine Neonazi-Demo, am 3. September soll es ein Gratis-Konzert der angesagten Rapper Casper und Marteria als Reaktion auf jüngste rechte Übergriffe sein: Chemnitz versucht, sich mit Kreativität gegen Rechts und Nationalismus zu stemmen. Unter dem Motto #wirsindmehr ruft Casper via Twitter zu dem Konzert am kommenden Montag auf. Hinter dem Auftritt steckt ein Kulturbündnis unter der Schirmherrschaft der Rockband Kraftklub.
Die Stadt will Vielfalt präsentieren, sich lebenswert zeigen für Menschen aus aller Welt. Das Bild aber, das von Chemnitz insbesondere seit Sonntag um die Welt geht, ist das einer Stadt in der Hand von rechten Gruppierungen. Einer Stadt, in der aus Demonstrationen heraus Ausländer attackiert werden oder sich Menschen mit hochgestreckten Mittelfingern, Hitlergruß und hassverzerrten Gesichtern als Rächer aufspielen.
„Schwerwiegende Instrumentalisierung der Trauer“
„Wir haben aber in den letzten Tagen nicht nur betroffene und trauernde Menschen erlebt, sondern auch eine schwerwiegende Instrumentalisierung der Trauer“, konstatiert Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD). Vereinnahmt wurde der Tod eines 35-jährigen Deutschen, der nach Messerstichen starb. Tatverdächtig und in Untersuchungshaft sitzen ein Iraker und Syrer. Gemeinschaftlicher Totschlag lautet der Vorwurf.
Die Einwohner wollen ein freundlicheres Bild von sich vermitteln. Mehr als 246.300 Menschen (Stand: 31. Dezember 2016) leben in der Stadt. Damit ist Chemnitz die drittgrößte Stadt nach Leipzig (571.000) und Dresden (547.100) in den ostdeutschen Bundesländern. Dahinter folgen Magdeburg und Halle in Sachsen-Anhalt mit jeweils gut 238.000 Einwohnern.
Alte Industriestadt und Hochtechnologie
Chemnitz, vor 875 Jahren als „lokus kameniz dictus“ (Chemnitz genannten Orte) am gleichnamigen Fluss gegründet, ist eine alte Industriestadt. Maschinenbau sowie Textil- und Autoindustrie bestimmten über Jahrhunderte die Entwicklung. Zu den wichtigsten Unternehmen gehören VW-Motorenwerk, Niles-Simmons Industrieanlagen oder Union Werkzeugmaschinen und das Modeunternehmen Bruno Banani.
Verknüpft sind die Industriezweige inzwischen mit der Hochtechnologie wie dem Smart Systems Campus, einem Kompetenzzentrum für Mikrosystemtechnik. Zudem profitieren die Branchen von der Technischen Universität. An acht Fakultäten studieren mehr als 11.000 junge Menschen. 27 Prozent davon sind Ausländer. „Daran gemessen sind wir die internationalste Uni in Sachsen und im Bundesvergleich der staatlichen Unis die Nummer drei“, sagte Uni-Sprecher Mario Steinebach.
Chemnitz, Karl Marx und rechte Gruppen
Wegen seiner Bedeutung als Wirtschaftszentrum auch für die Rüstungsindustrie war Chemnitz im Zweiten Weltkrieg Ziel von alliierten Bomben. Zwei Angriffe im Februar und März 1945 kosteten rund 3700 Menschen das Leben. Zugleich wurde die Innenstadt fast vollständig zerstört. Das Stadtzentrum wird daher heute von Neubauten dominiert.
1953 verlor Chemnitz für 37 Jahre seinen Namen und wurde in Karl-Marx-Stadt umbenannt. 1971 wurde dann das dazu passende Karl-Marx-Monument aufgestellt, das bis heute Wahrzeichen der Stadt ist. Der „Nischel“ oder auch einfach „Kopp“ ist beliebter Treff- und Veranstaltungsort. Am vergangenen Montag nutzten ihn rechte und gewaltbereite Gruppen als Kulisse für ihren Aufmarsch.
Und so geriet einmal mehr die hässliche, die braune Seite der Stadt in den Fokus. Spätestens seit dem NSU-Prozess in München ist geläufig, dass in Chemnitz ein ausgeprägtes rechtes Netzwerk vorhanden ist, das auch von Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe genutzt wurde. Eine 2016 erschienene Broschüre mit dem Titel „‚Rechts‘ sind doch die anderen!?“ und die Internetseite www.wachsam-in-chemnitz.de beleuchten die Szene detailliert. Auch das ausgezeichnete Theaterprojekt „Unentdeckte Nachbarn“ befasste sich mit den Hintergründen.
Flüchtlinge haben Angst
Die jüngste Eskalation hat unter Flüchtlingen in Chemnitz für beträchtliche Unruhe gesorgt. „Ich habe Angst“, sagt Kubra Azimi. Die 24 Jahre alte Afghanin hat sich nach eigener Aussagen seit Montag nicht mehr aus dem Haus getraut. Sie gehe nur noch in Begleitung auf die Straße. Zur Beratungsstelle in eine Villa auf dem Kaßberg ist sie mit ihrem 17-jährigen Bruder gekommen.
Naquibollah Azimi berichtet, dass er in einer WG lebt und die Betreuerin ihn und seine Mitbewohner aufgefordert hatte, am Montag nicht in die Innenstadt zu gehen. Er sei dennoch hingegangen. „Da war viel Stress.“ Er verurteilt die Gewalttat an dem 35-Jährigen. „Die beiden Ausländer haben einen Deutschen umgebracht. Ich weiß nicht warum die das machen“, erklärt der Afghane, der seit zweieinhalb Jahren mit seiner Schwester in Deutschland ist.
Die Geschwister sind nur zwei von mehreren Tausend Asylsuchenden, die der Flüchtlingsrat in Chemnitz betreut. Regelmäßig würden etwa 300 Menschen kommen, sagt Sebastian Lupke. Ein Drittel von ihnen kämen aus Chemnitz, die anderen aus den benachbarten Landkreisen. Er sei erschüttert über die jüngsten Vorfälle, sagt Lupke. Er hätte nie gedacht, dass er Klienten sagen müsste, kommt nicht zur Beratung, geht nicht in die Innenstadt. „Es tut echt weh, sowas zu sagen.“