Kosovo-Diskussion: Experten sehen Rückkehr des „ethnischen Prinzips“

Wien (APA) - Eine neue Grenze zwischen Serbien und Kosovo könnte Experten zufolge die gesamte Balkan-Region destabilisieren. „Fast schon ein...

Wien (APA) - Eine neue Grenze zwischen Serbien und Kosovo könnte Experten zufolge die gesamte Balkan-Region destabilisieren. „Fast schon ein Unfug“, nannte der Politologe Vedran Dzihic die Diskussion im Gespräch mit der APA. Für den Osteuropa-Kenner Oliver Schmitt wären Grenzkorrekturen „der Triumph des ethnischen Prinzips über das einer Bürgergesellschaft“. Er kritisierte diesbezüglich das „Schweigen der EU“.

In den vergangenen Wochen hatten Serbiens Präsident Aleksandar Vucic und sein kosovarischer Amtskollege Hashim Thaci den Plan in den Raum gestellt, den Grenzverlauf zwischen den beiden Ländern mit Rücksichtnahme auf ethnische Siedlungsstrukturen stellenweise neu ordnen zu wollen. Thaci führte die drei Gemeinden Presevo, Bujanovac und Medvedja an, die derzeit Teil der Republik Serbien sind. Die Staatschefs erklärten ausdrücklich das Ziel einer bilateralen Lösung ohne Einmischung von außen.

„Es ist derzeit so, dass man dieses Narrativ von einer bilateralen Lösung in aller Munde hat“, sagte Dzihic, der Balkan-Experte am Österreichischen Institut für Internationale Politik tätig ist. Bei der Debatte gehe es aber mehr oder weniger um „Luftschlösser auf beiden Seiten“. Denn an einer stabilen Lösung für den Kosovo müssten sowohl die USA und die EU partizipieren, und „natürlich auch die regionalen Staaten“.

Falls es tatsächlich zu einer Auflösung der derzeit bestehenden Grenzen kommt, wäre das „ein gefährlicher Präzedenzfall“, meinte Oliver Schmitt. Man würde damit den Konsens der Badinter-Kommission von 1991 verlassen, „wonach die alten Binnengrenzen von Jugoslawien bei zukünftigen Lösungen nicht verschoben werden sollten“. Dieser Leitsatz habe seither für die Unabhängigkeitserklärungen aller neuen Staaten am Balkan gegolten.

„Wenn man bedenkt, welche Implikationen das hätte, wäre ein Abgehen von dieser Doktrin wirklich fatal“, verwies der Historiker vom Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien auf eine mögliche Kettenreaktion. „Wenn man das ethnische Prinzip anwendet, bedeutet das, dass Zehntausende Menschen unmittelbar sowie Millionen Menschen von Bosnien bis Mazedonien von den Folgen einer weiteren Eskalation betroffen sind.“ Dieses „schlichte Denken“ in Deals sei im Übrigen auch auf den Einfluss des amerikanischen Präsidenten Donald Trump zurückzuführen, „dessen Schwiegersohn Jared Kushner offenbar mit Vucic entsprechende Gespräche geführt hat“.

Mazedonien erwähnte Schmitt mehrmals, da die „positive Dynamik“ dort leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden könnte. „Ich glaube, dass jetzt ein Gebietsaustausch die Versuche, die positive Entwicklung in Mazedonien aufrechtzuerhalten, das Land in Europa zu integrieren und an die NATO heranzuführen, völlig unterminiert“, stellte er klar. „In Mazedonien leben die großen ethnischen Gruppen in wichtigen Teilen des Landes gemischt. Das heißt, man muss alles vermeiden, was den Eindruck erweckt, dass ein solcher Gebietsaustausch so schnell und einfach möglich ist.“

Verwundert zeigte er sich darüber, dass niemand in der EU - mit Ausnahme Deutschlands - gegen die Rhetorik von Thaci und Vucic Stellung beziehe. Denn diese sei „mit dem Denken, das die EU immer vertreten hat, eigentlich nicht vereinbar“. Es zeige aber die neue Dynamik innerhalb der EU. „Was fehlt, ist natürlich auch die britische Stimme. Das war militärisch immer eine sehr starke Kraft am Balkan.“

Laut Dzihic wird in der aktuellen Diskussion ausgespart, wie Grenzverschiebungen in der Praxis ablaufen könnten. Politisch-rechtlich wären jedenfalls enorme Hürden zu überwinden. „Im Minimalfall müssten beide Verfassungen geändert werden, müssten die Menschen befragt werden, müssten die Menschen in den Gebieten gefragt werden und müsste selbstverständlich auch die internationale Gemeinschaft einbezogen werden“, erläuterte er. „Da wissen wir jetzt schon, dass viele Staaten, die Angst vor territorialen Debatten haben, nicht mitgehen werden und können.“

Zuerst müssten Vucic und Thaci aber im eigenen Land einen Konsens herstellen. „Und das würde in beiden Fällen ein hohes Risiko für die Regierungschefs bedeuten“, erklärte Schmitt. Wobei die Umsetzung für Thaci aufgrund der innenpolitisch fragilen Lage noch erheblich schwieriger wäre. In Serbien hingegen „ist die größte Opposition die serbisch-orthodoxe Kirche - und nicht die Opposition“, sagte Dzihic.

Ein weiteres Problem ist, dass Kosovo von zahlreichen Staaten, darunter in erster Linie Serbien, nach wie vor nicht anerkannt wird. Für ernsthafte Verhandlungen müsste Serbien diese Haltung wohl aufgeben. Wenn es zu einer Lösung kommt, würde sich die Frage stellen, was mit Serben beziehungsweise Albanern auf der dann „falschen“ Seite der neuen Grenze passiert. „Kommt es dann wieder zu den Zwangsumsiedlungen, die es schon gegeben hat? Dann würde man die übelsten Geister wieder aus der Flasche holen“, gab Schmitt zu Bedenken.

„Dass diese Fragen kaum oder gar nicht diskutiert werden, zeigt wie unausgegoren diese Sache ist“, meinte Dzihic, der sich auch zu der mit Spannung erwarteten Rede von Vucic am 9. September im Nordkosovo skeptisch zeigte. „Er weiß sicher noch nicht, was er sagen wird“, glaubt der Balkan-Experte, der in der heutigen Republika Srpska geboren wurde. „Im Maximalfall könnte er einen territorialen Tausch auf den Tisch legen. Aber ich meine, dass es nicht so weit kommen wird, weil viel zu viel Fragen offen sind.“