Fall Skripal: Wie ein Attentatsversuch zur diplomatischen Krise wurde
London/Moskau (dpa) - Bewusstlos sitzen der ältere Mann und die junge Frau auf einer Parkbank mitten in der südenglischen Kleinstadt Salisbu...
London/Moskau (dpa) - Bewusstlos sitzen der ältere Mann und die junge Frau auf einer Parkbank mitten in der südenglischen Kleinstadt Salisbury. Aus dem Mund der Frau läuft Schaum. Ihre Augen sind Augenzeugen zufolge weit geöffnet und komplett weiß. Es handle sich um einen „sehr ungewöhnlichen Fall“, sagt vor einem halben Jahr der Chef der Anti-Terror-Einheit, Mark Rowley.
Die Opfer - der ehemalige russische Doppelagent Sergej Skripal und seine Tochter Julia - sind mit dem einst in der Sowjetunion entwickelten Kampfstoff Nowitschok vergiftet worden. Aber von wem? Vater und Tochter entkommen nur knapp dem Tod und leben heute an einem geheimen Ort.
Wochen später der nächste Schock: Ein Mann findet ein Fläschchen mit einer Flüssigkeit in Salisbury und schenkt sie seiner Freundin - im Glauben, es handle sich um Parfüm. Die Frau reibt sich damit ein und stirbt qualvoll. Es war dasselbe Nervengift.
„Ich habe dir doch gesagt: Hebe hier nichts auf!“, schimpft eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter. Dort, wo die Skripals am 4. März bewusstlos auf der Bank saßen, verkaufen jetzt Händler Radieschen, Tomaten und Fisch. Die meisten Eltern achten genau darauf, was ihr Nachwuchs hier so treibt. Viele Senioren plauschen dagegen entspannt auf den Parkbänken. Die Bank der Skripals ist längst abgebaut. Ihren Standort verrät ein heller gereinigter Bereich neben dem Fischstand.
Viele Absperrungen sind inzwischen wieder entfernt, aber nicht alle. Die Zahl der Besucher in der idyllischen Stadt mit der riesigen Kathedrale nimmt langsam wieder zu. Doch der Fischhändler ist wie viele seiner Kollegen alles andere als zufrieden. „Das Geschäft ist um 60 Prozent zurückgegangen“, poltert er los. „Und die finanzielle Hilfe, die man uns gibt, ist nur ein Bruchteil davon. Immer wieder kommen hochrangige Leute hierher, aber die erzählen doch nur Müll.“
Frust in Salisbury, aber auch in den internationalen Beziehungen: Denn London bezichtigt Moskau, Drahtzieher des Anschlags zu sein. Der Kreml weist dies vehement zurück. Die Folge der Krise: Großbritannien, die USA und verbündete Staaten - auch Deutschland - haben bereits insgesamt mehr als 140 russische Diplomaten ausgewiesen. Russland reagierte mit ähnlichen Maßnahmen.
Damit nicht genug: Die USA stärken London weiter den Rücken und haben formell festgestellt, dass Russland für den Einsatz von Massenvernichtungswaffen verantwortlich sei. Das löst laut Gesetz Sanktionen aus, wie es sie bislang nur gegen Nordkorea und Syrien gab. Seit Ende August ist eine erste Runde von Strafmaßnahmen in Kraft. Sie sind war zwar noch relativ milde, doch der Rubelkurs und die Aktien russischer Unternehmen gerieten unter Druck.
Schwerer wird eine zweite Sanktionsrunde nach drei Monaten die russische Wirtschaft treffen. Sie könnte das Auslandsgeschäft russischer Banken lahmlegen; die Fluggesellschaft Aeroflot könnte Landerechte in den USA verlieren. Moskau behält sich Gegenmaßnahmen vor, doch viele Optionen hat es nicht: Zu klein ist der Handel, zu groß die Abhängigkeit von amerikanischer Technik, um die USA treffen zu können.
Viel Zoff in der internationalen Politik - und wie soll es nun im beschaulichen Salisbury weitergehen? „Ich habe keine Angst“, sagt die Rentnerin Mary Mitchell entschieden. „Das ist meine Heimat, ich lebe hier schon seit Jahrzehnten.“ Das Attentat auf Sergej Skripal, der 2010 im Rahmen eines Gefangenenaustausches nach England kam, stimme sie zwar traurig. Dies sei für sie aber kein Grund, den Ort zu verlassen. Und überhaupt: „Der Fall Skripal wird wohl nie aufgeklärt werden“, ist Mitchell überzeugt. So sei das eben in der Politik: „Dort passieren Dinge, von denen wir einfach nichts wissen.“