Rebecca Saunders: „Melodien hätten mich blockiert“
Am Donnerstag beginnen die 25. Klangspuren. Rebecca Saunders ist heuer Composer in Residence des Festivals für Neue Musik. Ein Gespräch über ihren Aufbruch ins Ungewisse, die Rahmen der Freiheit und das kurze Leben ihrer Stücke.
Es heißt, Ihr Weg zur Zeitgenössischen Musik sei alles andere als geplant gewesen.
Rebecca Saunders: Was ist schon geplant? Nichts. Im Nachhinein mag etwas den Eindruck eines Plans erwecken, aber im jeweiligen Moment weiß man davon wenig. Ich komme aus einer Musikerfamilie. Musik war immer Teil meines Lebens. Ich bin mit ihr groß geworden. Schon als Kind habe ich hemmungslos komponiert. Später, während meines Studiums in Edinburgh, auch. Und ich wusste, dass ich nach dem Bachelor ins Ausland wollte. Da habe ich Musik von Wolfgang Rihm gehört — und war wie gefesselt. Die räumliche Dimension, das farbliche Potenzial, ich war fasziniert und ergriffen. Obwohl ich nichts über Rihm wusste und kein Wort Deutsch sprach, war klar: Da muss ich hin. Also bin ich nach Karlsruhe gegangen — und er hat mich glücklicherweise nicht weggeschickt.
Es kann also ein Vorteil sein, wenn man nicht weiß, worauf man sich einlässt?
Saunders: Für mich war es ein Vorteil. Es eröffnete mir die Möglichkeit, nur meinem Gehör zu folgen. Auch weil mir die Worte fehlten, um Einwände zu formulieren. Es war wichtig, fremd zu sein, etwas außerhalb zu stehen und beobachten zu können. Alles, was ich sah und hörte, war frisch und neu. Ich musste wach und aufmerksam sein — und es konnte alles zu einer Einladung für meine ganz persönliche Reise werden.
Und diese Reise beginnt mit jedem Werk aufs Neue?
Saunders: Für mich schon. Man komponiert aus Leidenschaft, aus Obsession — und aus Neugier. Am Beginn jeder Arbeit stehen Fragen, manche sind ganz praktisch, andere eher abstrakt. Nicht alle wird man beantworten können, aber es lohnt sich, jeder ein Stück weit nachgehen zu können. Auch dann, wenn sie zu weiteren Fragen führen. Bei „Skin" zum Beispiel, das bei den Klangspuren aufgeführt wird, hat mich schon dieses Wort beschäftigt. „Skin", also Haut, was ist das überhaupt, diese dünne, fragile Schicht, die das Innere und das Äußere trennt. Oder „skin" als Verb, das kann dann heißen, dass man etwas herausschält — oder, brutaler, die Haut abzieht.
Ihr Interesse an Worten, auch an Literatur ist in den letzten Jahren gewachsen. Zuletzt haben Sie sich intensiv mit Beckett und Joyce beschäftigt.
Saunders: Aber ich vertone keine Texte, sondern sehe sie als Material. Texte großer Autorinnen und Autoren, da müsste man auch Virginia Woolfe oder Italo Calvino nennen, artikulieren etwas, mit dem ich mich musikalisch beschäftige. Sie drücken etwas aus, das ich mit Musik ausdrücken will. Trotzdem ist bei der Arbeit mit Texten neben dem Klangmaterial, das sie anbieten, auch dieser Unterdruck der Bedeutung. Auf den, da haben Sie Recht, lasse ich mich erst seit Kurzem ein.
Stimmt es, dass Sie eine standhafte Abneigung gegen Melodien haben?
Saunders: Das habe ich einmal auf eine ganz konkrete Frage geantwortet. Da hatte es seine Gültigkeit. Als ich jung war, war ich darum bemüht, nichts Melodisches zuzulassen. Ich war davon überzeugt, dass mir der Fokus auf die Melodie andere Entdeckungen verhindert hätte. Es hätte mich blockiert. Aber das heißt nicht, dass ich eine Brahms-Melodie nicht genießen könnte. Später habe ich eine Zeit lang nur Pianissimo-Stücke komponiert, obwohl meine Musik eigentlich laut und cholerisch sein soll.
Das heißt, man muss sich bisweilen blockieren, um andere Blockaden zu verhindern?
Saunders: Ich spreche lieber von „Rahmen". Es gibt immer etwas, das ein Stück rahmt. Man kann nicht immer alles gleichzeitig machen, also muss man entscheiden, reduzieren. Das ist das Herrliche an meiner Arbeit. So schafft man eine Landschaft, die man dann mit größtmöglicher Freiheit ausloten kann.
Ein Rahmen für jedes Stück bildet die jeweilige Aufführungssituation. Bei den Klangspuren stehen auch ältere Kompositionen von Ihnen auf dem Programm. Hören Sie die inzwischen anders?
Saunders: Bei einer Live-Aufführung hört jeder ein anderes Stück. Da geht es mir nicht anders. Es spielen verschiedene Aspekte mit: Nicht nur die jeweiligen Musiker, auch die eigene Situation, Emotionen, Hör- und Lebenserfahrungen, Erwartungen. Ein 25 Jahre altes Stück kann mich heute ganz anders berühren als damals.
Das heißt, die Stücke leben immer weiter?
Saunders: Sie leben nur ganz kurz. Aber immer wieder.
Und es sind immer wieder andere Musiker, die sie zum Leben erwecken.
Saunders: Für Komponisten ist es wichtig, dass sie sich nicht zu wichtig nehmen. Ein Stück entsteht im Zusammenspiel: Die Partitur ist ein Teil, die Ausführenden ein anderer. Es ist ein Dialog — und es gibt dabei Dinge, die mitgedacht werden müssen: Auch deren körperliche Choreografie im Akt des Spielens, die Bewegungen, durch die ein Ton entsteht. Das muss man mitdenken, das gehört dazu.
Das Gespräch führte Joachim Leitner