TT-Interview

„Mit gehässiger Stimmung gewinnen wir keine Kinder“

Experten plädieren bei der Integrationsdebatte für ein differenziertes Gesamtbild.
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Gut oder schlecht integriert? Die Experten Kenan Güngör und Susanne Thiel antworten auf das vielschichtige Thema.

Innsbruck – Beide beschäftigen sich auf verschiedenste Art und Weise mit dem Thema Integratio­n, Islam und Migratio­n. Der Wiener Soziologe Kenan Güngör hat selbst kurdisch-türkische Wurzeln und beschäftigt sich mit Integrations- und Diversitätsfragen, vor allem von Kindern und Jugendlichen (Inhaber des Büros „think.difference“). Die deutsche Ethnologin Susanne Thiel beleuchtet in ihrem neuen Buch „Kulturschock Islam“ beid­e Seiten. Sie erörtert u. a. die Lage in islamischen Ländern vor Ort, erklärt die Lebensweise, Denkart, beschreibt, welche Welten aufeinandertreffen, wenn Migranten in westliche Länder kommen.

Anlässlich des Buches „Kulturkampf im Klassenzimmer“ gibt es erneut viel Diskussion rund um Integration. Teils wird diese hart geführt. Ist das legitim?

Kenan Güngör: arbeitet als Soziologe, ist im Expertenrat für Integration der Regierung.
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Kenan Güngör: Es ist richtig und wichtig, über solche Fragen zu diskutieren. Die Probleme, die angesprochen werden, existieren auch. Wir dürfen allerdings bei der ganzen Debatte das richtige Augenmaß nicht verlieren: Ja, wir hören die Alarmglocken von Problemschulen. Das heißt aber nicht, dass es sich um ein gesamtes Allgemeinbild handelt. Wenn man hier jetzt pauschaliert, dann wird das Thema schwärzer gesehen, als es in der Realität ist. Das schafft nur eine gehässige Stimmung, die allen schadet. Deshalb braucht es auch die von Faßmann beauftragte Studie. Wir müssen sichtbar machen, wie viel­e Schulen, welche Schultypen oder welche Altersgruppe auffallen.

Susanne Thiel: Es ist gut, darüber zu diskutieren. Es wird aber zu sehr der Fokus auf die Religion gelegt, also auf den Islam. Diese spielt eine weitaus unwichtigere Rolle, als es in der öffentlichen Diskussion dargestellt wird. Es geht eher um kulturelle Unterschiede. Ja, die gibt es, und es ist für beide Seiten nicht einfach. Auch unsere Lebensmodelle sind vielen Migranten fremd und unheimlich. Umgekehrt wissen wir wenig über die Kultur islamischer Länder. Es gibt viele Gemeinsamkeiten. Auch Missverständnisse, die nicht zwangsläufig mit Religion zu tun haben. Das Thema Integration beschäftigt uns in Wahrheit mit vielen Gruppierungen – es gibt auch eine große Population aus Osteuropa, die unter sich bleibt, nur russisches Fernsehen schaut, Putin verherrlicht. Das scheint keinen zu stören.

Susanne Thiel: Autorin, Trainerin für interkulturelle Begegnungen, spezialisiert Islam.
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Fakt ist, dass es Parallelgesellschaften gibt und Integration nicht so funktioniert, wie man es sich wünschen würde. Wie sollen wir damit umgehen?

K. Güngör: Wichtig ist, nicht zu verallgemeinern und plötzlich alle muslimischen Kinder zu Problemkindern zu machen. Wir brauchen ein realistisches Bild von der Lage, keine Hysterie oder Angstmache in der Diskussion. Wir sollten uns Schulen anschauen, wo das Miteinander gut funktioniert. Das Allerwichtigste ist, dass wir als Gesellschaft erkennen: Wir Erwachsenen schaffen die Rahmenbedingungen. Und hier ist es wichtig, dass wir keine gehässige Stimmung und Negativität produzieren, sondern uns um die Kinder kümmern. Wir dürfen nicht die Kinder in „unsere“ und „andere“ auseinanderdividieren. Es sind alles unsere Kinder. Hier ist es wichtig, muslimischen Kindern in der Schule schon zu zeigen: Ihr gehört zu uns. Wir nehmen euch an, wenden uns euch zu. Dass sich in der Pubertät viele Jugendliche erst finden müssen, teils ausreizen, liegt in der Natur der Sach­e. Dazu müssen wir engagierte Lehrer mit hoher Resilienz stärken, denn die können diese Kinder gewinnen. Lehrer brauchen sinnvolle Unterstützungsangebote.

S. Thiel: Wir leben in einer globalen Welt, in Migrationsgesellschaften. Das schafft Chancen, aber eben auch Reibungspunkte. Neue Medien machen die Sache nicht einfacher, weil man leichter am Heimatland dranbleiben kann. Parallelgesellschaften werden sich temporär immer ergeben, Integration braucht einfach Zeit.

Die Gespräche führte Liane Pircher