In jeder Zelle steckt ein Mann oder eine Frau
In der Vergangenheit wurden Geschlechterunterschiede in der Medizin kaum berücksichtigt. Neue Erkenntnisse fordern ein Umdenken.
Von Theresa Mair
Innsbruck –Man nehme die Gießkanne und schütte den Dünger gleichmäßig über alle Pflanzen, egal ob Rose oder Rosmarin. Der einen Blume wird es helfen, bei der anderen wirkt der Dünger nicht – oder schlimmer, er schadet ihr. Ein Hobbygärtner würde das nie machen. Doch dieses Gießkannenprinzip galt lange in der Medizin, wenn es z. B. um Geschlechterunterschiede von Mann und Frau ging.
Es wurden z. B. Medikamente entwickelt und nur an Männern erprobt. Helfen sollten sie aber auch den Frauen. Ein Trugschluss, wie Judith Lechner, Forscherin an der Sektion für Physiologie der Medizinischen Universität Innsbruck, sagt. „Wir wissen, dass in der Vergangenheit sehr viele Medikamente nach der Einführung wieder vom Markt genommen werden mussten, weil sie starke Nebenwirkungen bei Frauen hatten“, so Lechner.
Mit dem heutigen Wissen müsse man sich fragen, ob man sich in der Grundlagenforschung weiter mit einem „reduzierten Bild“ zufriedengeben wolle, das nur die Hälfte der Menschheit repräsentiert, „schlimmstenfalls aber niemanden von uns richtig“.
Doch inzwischen ist ein Umdenken im Gange. Man wisse jetzt nämlich, dass Geschlechterunterschiede in allen Körperzellen Bedeutung haben. Diese Unterschiede entstünden entweder durch die Wirkung von männlichen oder weiblichen Geschlechtshormonen oder durch die Geschlechtschromosomen.
„Eine Folge kann sein, dass Zellen aus Mann und Frau unterschiedlich mit Stresssituationen umgehen“, erklärt Lechner. So würden männliche Zellen dazu neigen, sich selbst zu eliminieren, wenn sie geschädigt sind. Dies sei ein Vorteil für den Gesamtorganismus, aber nur wenn nicht zu viele Zellen betroffen sind.
Weibliche Zellen gehen dagegen eher in den Ruhemodus über. „Das kann ein Vorteil sein, da dadurch Zeit bleibt, die Zelle zu reparieren, aber ein Nachteil, wenn die Reparatur nicht gelingt.“
Die Grundlagenforschung versucht daher zu verstehen, wie die Körperzellen funktionieren, damit schon im Zell- und Tiermodell bei der Entwicklung neuer Therapien auf Unterschiede Rücksicht genommen werden kann. Als Mitglied des „AnimalFree-research Cluster“ der Med-Uni verzichtet Lechner jedoch auf Tierversuche. Sie arbeitet daran, Zellmodelle zu optimieren, um Mann und Frau besser nachzubilden zu können.
Da sich die Medizin immer mehr zu einer personalisierten Therapie hinbewegt, die für jeden Menschen maßgeschneidert sein sollte, haben Wissenschaft und Industrie großes Interesse an neuen Erkenntnissen der Geschlechterforschung. „Wir wissen einfach noch zu wenig darüber, aber aus den bestehenden Daten ist mittlerweile klar, dass wir viel mehr darüber wissen sollten“, bringt es die Wissenschafterin auf den Punkt. In einigen Bereichen gebe es auch schon Therapie-Empfehlungen für Männer und Frauen, die über Anpassungen an das Körpergewicht hinausgingen.
Doch ganz ohne Widerstände laufe dies nicht ab: „Forscher müssen mehr Geld und Zeit investieren, wenn sie ihre Daten hinsichtlich möglicher Geschlechterunterschiede prüfen wollen.“ Die Rahmenbedingungen, um Forschungsgelder zu erhalten, seien jedoch schwierig. Ein wichtiger Schritt ist für sie daher, dass Forschungsförderungsgesellschaften und Fachjournale zunehmend darauf pochen, dass der Geschlechteraspekt in Studien berücksichtigt wird.
Veranstaltung: Bei der Ringvorlesung Gendermedizin in Innsbruck (gr. Hörsaal, Frauen-Kopf-Klinik) beleuchten ab 4.10. jeden Donnerstag um 18.30 Uhr Experten die Geschlechterunterschiede in der Praxis. Den Auftakt macht Leiterin Margarethe Hochleitner mit einem Überblick über den Stand des Wissens. Judith Lechner hält ihren Vortrag „Sexy cells“ am 11.10., Programm unter: www.gendermed.at, Eintritt frei.