Mähdrescher-Unfall: „Riesiges Glück, dass er noch lebt“
Der Obdachlose (38), der in einem Maisfeld übernachtete, wurde schwer verletzt. Das Sicherheitssystem der Maschine rettete ihm das Leben. Der Verein für Obdachlose wertet das Unglück als „Resultat der Verdrängung“.
Von Benedikt Mair
Innsbruck – Kleine Metallgegenstände, darunter eine Nagelschere, die er mit sich führte, haben ihm wohl das Leben gerettet. Sie lösten das Sicherheitssystem des Mähdreschers aus, der den in einem Maisfeld schlafenden Obdachlosen gestern in den frühen Morgenstunden in Innsbruck erfasst hat. Der 38-jährige Deutsche wurde mit schweren Verletzungen am linken Oberschenkel in die Klinik gebracht.
Passiert ist das Unglück gegen 5.50 Uhr in einem Feld im Stadtteil Pradl. Ein 35-jähriger Bauer erntete mit seinem 16-Tonnen-Mähdrescher Mais, als bei der Maschine plötzlich der automatische Notstop aktiviert wurde. Erst dann bemerkte der Landwirt, dass er einen Menschen erwischt hatte. „Der unterstandslose Mann aus Deutschland war auf der Durchreise. Er hatte riesiges Glück, dass er noch am Leben ist“, sagt ein Ermittler der Polizeiinspektion Pradl. Bei einem der Gegenstände soll es sich laut Zeugen um eine Nagelschere gehandelt haben, die der Mann in seiner Hosentasche trug und die in der Wunde stecken blieb. Der Mähdrescher habe den Mann einige Meter vor sich hergeschoben. „Nur dem Umstand, dass er Metallteile bei sich trug und welche in seinem Rucksack hatte, ist es zu verdanken, dass er nicht getötet wurde“, berichtet der Polizist.
Der Obdachlose hatte sich eine große Fleischwunde zugezogen, wurde gestern Vormittag operiert. Ob der Fuß abgenommen werden musste, war gestern von der Klinik in Innsbruck nicht in Erfahrung zu bringen. „Der Mann schwebt aber nicht in Lebensgefahr. Er ist auf der Normalstation untergebracht“, erzählt Klinik-Sprecher Johannes Schwamberger.
„Dass in Tirol jemals so etwas Ähnliches passiert ist, wäre uns nicht bekannt“, sagt die Pressesprecherin der Tiroler Landwirtschaftskammer, Judith Haaser. Von einem „bedauerlichen Unglück“ spricht Hans Gföller, Leiter der Rechtsabteilung der Landwirtschaftskammer. Er betont aber auch, dass dem betroffenen Bauern „nichts angelastet werden kann. Er kann und muss nicht ahnen, dass sich jemand in seinem Feld befindet. Anders als etwa im Wald haben wir auf landwirtschaftlichen Flächen kein freies Betretungsrecht“, weiß der Jurist. „Wer sich auf einem Feld, einem Acker oder auf einer Alm befindet, muss mit der dort üblichen Bewirtschaftungsweise rechnen“, sagt Gföller. Und ein Mähdrescher gehöre auf einem Maisfeld eben zu diesen üblichen Bewirtschaftungsweisen. „Etwas anderes wäre es, wenn der Bauer etwa Schießübungen durchgeführt hätte.“
Tief geschockt war gestern Michael Hennermann, der Geschäftsführer des Vereins für Obdachlose. Auch ihm seien ähnliche Zwischenfälle nicht bekannt, jener von gestern sei jedoch als Weckruf zu werten: „Er zeigt die Knappheit der Ressourcen. Obdachlose haben keine Plätze, um zu übernachten. Die Notschlafstellen sind voll, von anderen Orten werden sie verjagt. Das Unglück ist ein Resultat davon, dass sie in Tirol und Innsbruck immer mehr verdrängt werden. Weil sie nirgendwo mehr bleiben können, gehen die Menschen höhere Risiken ein“, stellt Hennermann fest.
Er wisse von Obdachlosen, die in einem Lüftungsschacht übernachten oder nahe gefährlicher Straßen- oder Schienenabschnitte Quartier beziehen würden. „Die Leute ohne Wohnung werden mehr, der Platz aber weniger. Früher wurden sie in Abbruchhäusern oder unter Autobahnbrücken geduldet. Heute werden Sicherheits- oder Räumungsdienste angestellt“, kritisiert der Geschäftsführer des Vereins für Obdachlose.
Jedenfalls empfinde er das Unglück als „starkes Signal an die Politik. Ich hoffe, das ‚Impulspaket Soziales‘ wird abgesegnet“, sagt er. Über dieses Paket wurde gestern im Landtag debattiert. Mehr dazu lesen Sie auf Seite 6. Hennermann: „In den kommenden Wochen spannt sich die Lage für Obdachlose weiter an. Der Winter kommt.“