Es wird knapp für das Weltklima, aber zu spät ist es noch nicht
Experten gingen vor kurzer Zeit noch davon aus, dass bei einer Erwärmung um bis zu zwei Grad die Folgen kontrollierbar bleiben. Jetzt wurde deutlich: Bei mehr als 1,5 Grad Zunahme nimmt die Wahrscheinlichkeit von Extremwetter um 50 Prozent zu, der Fischfang in tropischen Gebieten bricht zusammen, Ackerbauerträge gehen um bis zu 15 Prozent zurück und Korallenriffe verschwinden weltweit. Der am Montag veröffentlichte Sonderbericht des Weltklimarates ist ein Weckruf.
Incheon/Genf/Brüssel – Die Erderwärmung erfolgt schneller und mit schwereren Folgen als bisher angenommen. Zu diesem Schluss kommen die 91 Autoren des am Montag im südkoreanischen Incheon vorgestellten Sonderberichts des Weltklimarats IPCC zum 1,5-Grad-Ziel. Ein zügiger Umbau der gesamten Weltwirtschaft sei daher unbedingt erforderlich. Beobachter beschrieben den Sonderbericht als politischen Weckruf.
„Die globale Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, erfordert rasche, weitreichende und beispiellose Veränderungen in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft“, erklärte der IPCC am Montag im Anschluss an eine mehrtägige Sitzung in der südkoreanischen Küstenstadt Incheon. Es gehe um Veränderungen in den Bereichen Energie, Industrie, Gebäude, Transport, in den Städten und auf dem Land.
„Eine der Kernaussagen des Berichts ist: Wir sehen derzeit bereits die Konsequenzen von einem Grad Erderwärmung wie mehr Extremwetter, steigende Meeresspiegel, schwindendes arktisches Meereis und andere Veränderungen“, sagte der Co-Vorsitzende einer IPCC-Arbeitsgruppe Panmao Zhai. „Der Sonderbericht sendet ein klares Signal an die Politik: jetzt handeln, es ist fast schon zu spät,“ kommentierte Niklas Höhne von der niederländischen Universität Wageningen.
Klare Unterschiede zwischen Erwärmung von 1,5 oder 2,0 Grad
Das Papier zeigt einige klare Unterschiede zwischen einer Erwärmung von 1,5 und einer von 2,0 Grad. Der globale Meeresspiegel würde bis zum Ende dieses Jahrhunderts bei 1,5 Grad Erwärmung um zehn Zentimeter weniger klettern als bei 2,0 Grad. „Das würde beinhalten, dass zehn Millionen weniger Menschen den Risiken ausgesetzt wären, wie der Versalzung von Äckern oder Überschwemmungen durch Stürme in küstennahen Gebieten“, sagte IPCC-Autor Wolfgang Cramer. „Das Nildelta und andere Flussdeltas erleben schon jetzt Verluste an Landfläche durch eindringendes Meerwasser.“
Um die 1,5-Grad-Grenze einzuhalten, sollte laut IPCC-Bericht der weltweite Kohlendioxidausstoß 2020 seinen Höhepunkt erreichen und danach deutlich absinken. Auch müsse bis 2050 Treibhausgasneutralität erreicht sein. Präzisiert wird das „CO2-Budget“, das der Menschheit für ein Einhalten der 1,5-Grad-Grenze noch zur Verfügung steht. Für eine Zwei-Drittel-Wahrscheinlichkeit, dies zu erreichen, wären es 420 Milliarden Gigatonnen CO2, was ohne Umsteuern innerhalb der nächsten zehn Jahre aufgebraucht sein dürfte.
70 Prozent erneuerbarer Energieträger bis 2050 nötig
Der Anteil erneuerbarer Energieträger müsste den Wissenschaftern zufolge bis zur Mitte des Jahrhunderts von derzeit etwa 20 Prozent auf mindestens 70 Prozent ansteigen. Der Anteil der Kohle müsste möglichst auf Null, der von Gas selbst in Verbindung mit CO2-Abscheidung auf höchstens acht Prozent sinken. Der Rest würde in dieser Rechnung wohl vorwiegend auf Atomkraft entfallen.
Die Kosten für diesen Umbau des Energiesektors dürften laut IPCC bis 2035 etwa 2,1 Billionen Euro betragen. Ähnlich drastische Maßnahmen wären bei Verkehr und Landwirtschaft notwendig. Bei Tatenlosigkeit wären demnach jedoch die Kosten zur Bewältigung der Klimafolgen noch erheblich höher. Auch könnte es bei einem Umsteuern Synergieeffekte hinsichtlich des Erreichens weltweiter Entwicklungsziele geben.
Bis vor einiger Zeit waren viele Experten noch davon ausgegangen, bei einer Erwärmung um bis zu zwei Grad würden deren Folgen weitgehend kontrollierbar bleiben. In dem neuen Bericht gehen die Klimaforscher jedoch von einem exponentiellen Anstieg der Risiken zwischen den Zielmarken von 1,5 und 2,0 Grad aus. So dürfte die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Extremwetter, wie es einst einmal alle hundert Jahre auftrat, bei einem halben Grad mehr Erwärmung um etwa 50 Prozent zunehmen, der Fischfang in tropischen Gebieten dürfte vielerorts zusammenbrechen. Ackerbauerträge dürften um zehn bis 15 Prozent zurückgehen und Korallenriffe weltweit verschwinden.
Auch die Eisschmelze in Arktis und Antarktis würde sich dann beschleunigen. Sorgen macht den Forschern besonders ein Auftauen arktischer Permafrostböden. Große Mengen freigesetzten Methans würden dann den Klimawandel zusätzlich beschleunigen, ein drastischer Anstieg des Meeresspiegels dürfte die Folge sein.
1,5-Grad-Ziel „technisch und wirtschaftlich“ möglich“
Die gute Nachricht: Die IPCC-Experten halten ein Erreichen des 1,5-Grad-Ziels „technisch und wirtschaftlich für möglich“ – wenn der politische Wille dafür da ist. Der Bericht enthält dafür vier Szenarien mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten.
Möglich wären etwa eine drastische Verringerung des Energieverbrauchs oder auch erhebliche Verhaltensänderungen wie eine Verringerung des Fleischkonsums und der Abschied vom Verbrennungsmotor bei Autos. Andere Szenarien setzen stärker auf Techniken, um CO2 im großen Stil aus der Atmosphäre zu entfernen. Generell halten die Experten solche negativen Emissionen durch CDR-Verfahren (carbon dioxide removal) für weitgehend unverzichtbar, erst recht, wenn das CO2-Budget zeitweise überschritten werden sollte.
Rotes Kreuz warnt vor schwierigeren Katastropheneinsätzen
Das Rote Kreuz sieht angesichts des Klimawandels mehr und vor allem schwierige Katastropheneinsätze auf sich zukommen. „Mehr als die Hälfte unserer Operationen sind inzwischen wetterbedingt, viele weitere werden vom Klima beeinflusst oder zusätzlich verschärft“, sagte der Präsident der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC), Francesco Rocca, laut in Genf.
Es sei daher nur schwer vorstellbar, wie sich kleine Gemeinschaften gegen noch mehr Krisen und Katastrophen in einer deutlich wärmeren Welt zur Wehr setzen könnten. „In einer 1,5 Grad wärmeren Welt werden mehr Ereignisse mit extremem Wetter alle Menschen betreffen. Besonders grausam wird es dann für Gemeinschaften, die schon jetzt wegen Konflikten, Unsicherheit und Armut ums Überleben kämpfen.“ Laut der Weltorganisation für Meteorologie sind 2016 rund 23,5 Millionen Menschen wegen wetterbedingten Katastrophen geflüchtet. Das Rote Kreuz fordert daher auch eine bessere finanzielle Unterstützung.
Klimaschützer fordern Nachbesserung der EU
Nach dem Bericht Klimarats drängen Klimaschützer vor allem die Europäische Union zu mehr Anstrengungen, um die Erderwärmung bei 1,5 Grad zu stoppen. Die EU müsse ihre mittel- und langfristigen Klimaziele deutlich erhöhen, erklärte das Climate Action Network (CAN) am Montag in Brüssel. „Alle Augen sind jetzt auf die EU-Umweltminister gerichtet.“
Die Minister wollen am Dienstag in Luxemburg die nächste Weltklimakonferenz in Polen im Dezember vorbereiten. EU-Klimakommissar Miguel Arias Canete hatte im Sommer dafür plädiert, auf internationaler Ebene bis 2030 eine Senkung der Treibhausgase der EU um 45 Prozent im Vergleich zu 1990 zuzusagen. Bisher ist das EU-Ziel 40 Prozent.
Einige EU-Staaten wollen sich laut CAN beim Rat der Umweltminister dafür einsetzen, das Ziel jetzt nachzuschärfen, und entsprechende Änderungen an den Beschlussvorlagen einbringen. CAN ist der größte Verband von Klimaschützern weltweit und umfasst nach eigenen Angaben 1300 Organisationen. (APA/AFP/dpa/TT.com)
Der Weltklimarat
Auch wenn der Weltklimarat IPCC die meiste Zeit still vor sich hin arbeitet, um aus einer Vielzahl von Studien und Statistiken die neuesten Erkenntnisse zum Klimawandel zusammenzutragen, gibt er wie jetzt in der Klima-Debatte immer wieder wichtige Impulse.
Geschichte und Aufgaben
Der Intergovernmental Panel on Climate Change wurde 1988 von der UNO-Umweltorganisation (UNEP) und der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) gegründet. Seine Aufgabe ist es, die Politik neutral über die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Klimaveränderung und zu möglichen Gegenmaßnahmen zu informieren. Dem IPCC gehören 195 Staaten an, die jeweils Experten entsenden, welche eigenständig Berichte erstellen und das letzte Wort darüber haben. Das Gremium mit Sitz in Genf wird derzeit von dem Südkoreaner Hoesung Lee geleitet, einem Experten für die wirtschaftlichen Folgen des Klimawandels. Die IPCC-Berichte werden von tausenden Wissenschaftern zusammengestellt, darunter neben Klima- und Meeresforschern auch Statistiker, Ökonomen und Gesundheitsexperten.
Der IPCC betreibt keine eigene Forschung zum Klimawandel, sondern wertet Tausende Studien aus und fasst die zentralen Erkenntnisse daraus zusammen. Die verwendeten Studien haben im Regelfall das sogenannte Peer-Review-Verfahren durchlaufen – sind also von anderen Wissenschaftern begutachtet worden.
Alle fünf bis sechs Jahre veröffentlicht der IPCC umfassende Überblicke über den aktuellen Stand der Klimaforschung, die in der Regel etwa 1500 Seiten stark sind. Der erste IPCC-Bericht wurde 1990 veröffentlicht, der jüngste vor dem Sonderbericht zum 1,5-Grad-Ziel im Jahr 2014. Die regulären Berichte werden von je drei Arbeitsgruppen zusammengestellt: Eine legt die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Klimawandel dar, die zweite beleuchtet die Folgen der Erderwärmung und die dritte zeigt Handlungsoptionen auf.
Sonderberichte mit Zusammenfassung für Politik
Abgesehen von seinen regulären Veröffentlichungen fertigt der Weltklimarat auch Sonderberichte zu bestimmten Aspekten des Klimawandels an. Nach dem 1,5-Grad-Bericht will er im September 2019 einen Sonderbericht zu den Veränderungen der Weltmeere und der Permafrostgebiete vorlegen sowie einen weiteren zu Landnutzung und Ernährungssicherheit. Zu jedem Bericht fertigt der IPCC eine Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger an. Diese wird jeweils in mehreren Runden redigiert – erst von Wissenschaftern, dann von Regierungsvertretern. Der abschließende Entwurf der Berichtszusammenfassung wird dem IPCC-Plenum vorgelegt, das den Text Zeile für Zeile durchgeht und ihn schließlich im Konsens verabschiedet. Regierungen können Änderungen an der Zusammenfassung erwirken – allerdings nur, wenn die neuen Formulierungen durch die wissenschaftlichen Erkenntnisse im Bericht gedeckt sind.
Der IPCC wird dafür gelobt, dass er Entscheidungsträgern mit seiner eingehenden Untersuchung des Klimawandels wichtige und zuverlässige Informationen bereitstellt. 2007 wurde das Gremium zusammen mit dem früheren US-Vizepräsidenten und Klimaschutz-Vorkämpfer Al Gore mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Mit kleineren Fehlern in seinen Berichten lieferte der IPCC allerdings auch immer wieder Skeptikern Munition, die die Kompetenz des Gremiums anzweifeln und ihm Befangenheit vorwerfen. Einige Wissenschafter werfen dem IPCC vor, bei der Bewertung von Risiken zu konservativ zu sein und damit zu einer Unterschätzung der Gefahren durch den Klimawandel beizutragen.