Plötzlich staatenlos: Hunderte Pässe von Austro-Türken ungültig
Hunderte Aberkennungsbescheide in den vergangenen Tagen: 29.000 Austrotürken drohen wegen mutmaßlicher Doppelstaatsbürgerschaften massive Folgen. Verfassungsjurist Funk warnt davor, dass Menschen staatenlos werden.
Von Serdar Sahin und Peter Nindler
Wien, Innsbruck — Was passiert mit jenen Menschen, denen die österreichische Staatsbürgerschaft aberkannt wurde (Ex-lege-Verlust), die aber keinen türkischen Pass mehr haben? „Es besteht die Gefahr, dass sie als staatenlos anzusehen sind. Mit all den Konsequenzen, die sich daraus ergeben", erklärt Verfassungsjurist Bernd-Christian Funk.
Im Gespräch mit der Tiroler Tageszeitung plädiert er dafür, den Betroffenen die österreichische Staatsbürgerschaft „möglichst einfach wiederzuverleihen". Das sei der „einzige Ausweg, den es jetzt realistischerweise gibt". Funk weist darauf hin, dass die Voraussetzungen für den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft ja erfüllt waren — also bei der Verleihung.
Ein Problem sieht der Verfassungsrechtler dennoch: „Die Schwierigkeit wird sein, dass der konkrete Beweis nicht erbracht wurde und wohl nicht erbracht werden kann — nämlich, dass keine Schritte gesetzt wurden zur Wiedererlangung der türkischen Staatsbürgerschaft. Und das ist ja doch eine Voraussetzung." Gemeint ist damit, dass es für mutmaßlich illegale austro-türkische Doppelstaatsbürger schwierig ist, zu beweisen, dass sie keinen türkischen Pass mehr haben, da die türkischen Behörden in der Causa nicht kooperieren.
Staatenlose sind im Alltag mit massiven Problemen konfrontiert. Wegen fehlender Dokumente können sie oft nicht arbeiten, kein Bankkonto eröffnen, nicht reisen oder heiraten. Die aktuellsten Zahlen der Statistik Austria zeigen, dass hierzulande knapp 12.000 Personen (Stand: 2016) als staatenlos oder mit ungeklärter oder unbekannter Staatsbürgerschaft geführt werden.
Wie viele Menschen in Österreich tatsächlich staatenlos sind, lässt sich nicht eindeutig belegen. So ortet das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR in seinem Bericht zu Österreich Mängel in der Erhebung der Zahl der Staatenlosen. Um künftig die Situation von Staatenlosen zu verbessern und die Entstehung neuer Fälle zu verhindern, empfiehlt das UNHCR daher „die Schaffung einer zentralen Behörde sowie ein faires und effizientes Verfahren zur Feststellung der Staatenlosigkeit". Das passiert derzeit auf Gemeindeebene — diese handhaben das allerdings unterschiedlich.
Funk schließt sich der UNHCR-Kritik an. „Wir sehen das jetzt auch anhand der aktuellen Fälle und derer, die wohl noch kommen werden, dass hier eine Situation besteht, die rechtlich nicht wirklich bewältigt ist."
Ein weiteres Problem sieht das UNHCR bei Kindern, die in Österreich staatenlos zur Welt kommen: Um ihnen dieses Schicksal zu ersparen, rät das Flüchtlingshochkommissariat, rechtliche Vorkehrungen für den automatischen Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft zu treffen.
Zum Hintergrund der Geschichte: Seit im Vorjahr eine angeblich türkische Wählerevidenzliste aufgetaucht ist und diese von der FPÖ den Behörden übergeben wurde, sind Prüfungen im Gange. Untersucht wird, ob Türken, die die österreichische Staatsbürgerschaft angenommen haben, die türkische danach heimlich wiedererlangt haben. Als Basis dient den Behörden die Wählerliste. Staatsbürgerschaften wurden bereits aberkannt. Das führte zu Beschwerden. Der Verwaltungsgerichtsgerichtshof bestätigte zuletzt den Verlust auf Basis der Wählerevidenz. Die betroffene Frau aus Salzburg konnte keinen Bewies vorlegen, dass sie nicht wieder um die türkische Staatsbürgerschaft angesucht hatte.
In den vergangenen Tagen ergingen bereits Hunderte Aberkennungsbescheide, „eine Vielzahl davon in Niederösterreich", wie die ehemalige grüne Nationalratsabgeordnete Berivan Aslan betont. In Tirol aber noch nicht, da wartet man noch auf die Entscheidung des Landesverwaltungsgerichts. Insgesamt droht allerdings 29.000 vermeintlichen Doppelstaatsbürgern der Verlust des rotweißroten Passes. Aslan kritisiert die Behörden und die praktizierte Beweislastumkehr. „Ich hege so meine Zweifel an der Aktualität der Wählerevidenz." Da nicht alle Betroffene die Möglichkeit hätten, in die Türkei einzureisen bzw. ihr Personenstandregister abzufragen, wäre es sinnvoll, wenn die österreichischen Behörden diese Unterlagen direkt bei den türkischen Behörden mit der Einwilligung der Betroffenen einfordern, meint Aslan. In einer Online-Petition fordert sie jetzt von der Bundesregierung eine lebensnahe Lösung. Sie schlägt eine Art Stichtagsregelung vor. Diese soll es den Betroffenen erlauben, bis zu einem bestimmten Tag, bei nachweislicher Zurücklegung ihrer zweiten Staatsbürgerschaft, die österreichische beizubehalten bzw. wiederzuerlangen.