„Weltmacht China“ - Aufschlussreiches Puzzle von Ex-Korrespondent Löw
Peking/Wien (APA) - Das „Reich der Mitte“ ist drauf und dran zum führenden Global Player in Politik und Wirtschaft zu werden. „Weltmacht Chi...
Peking/Wien (APA) - Das „Reich der Mitte“ ist drauf und dran zum führenden Global Player in Politik und Wirtschaft zu werden. „Weltmacht China“, heißt daher ein neues Buch des früheren ORF-Korrespondenten Raimund Löw und seiner Ehefrau Kerstin Witt-Löw im Residenz-Verlag. Interessant machen es die kleinen Mosaiksteine aus dem Alltag, welche die Autoren letztlich zu einem aufschlussreichen Puzzle zusammensetzen.
Der bald 67-jährige Löw, der in seiner Jugend auch Sinologie studierte, analysiert die historischen Entwicklungen vom kulturrevolutionären China zu Zeiten Mao Tse-tung (Mao Zedong) bis hin zum schwindelerregenden Wirtschaftswachstum in den vergangenen Jahren. Millionenstädte, deren Namen vielen Europäern gar kein Begriff sind, schossen aus dem Boden. Der Lebensstandard der Bevölkerung ist im Schnitt zweifellos deutlich gestiegen, das Demokratieniveau hingegen nicht. Allerdings ist dies in den „großen Visionen“, die Staats- und Parteichef Xi Jinping den Bürgern unter dem Titel „Sozialismus chinesischer Prägung für eine neue Ära“ präsentiert, auch nicht vorgesehen. „Der Präsident sieht sein Land am Beginn eines neuen Zeitalters, in dem die extreme Armut der Vergangenheit überwunden ist.“
Wobei der Schein mitunter auch trügt: „Die sozialen Gegensätze in der Volksrepublik China sind nicht geringer als in Indien, Brasilien oder anderen Schwellenländern“, analysiert Löw. „Im Maoismus waren alle arm, trotz der Allmacht der Parteifunktionäre gab es für niemanden die Möglichkeit, sich persönlich zu bereichern. Heute verfolgt man den Lebensstil der Reichen und Superreichen im Internet. Marktwirtschaft und soziale Unterschiede sind Teil der Entwicklung. Aber dass sich Menschen gegen Ungerechtigkeiten wehren, ist im Einparteiensystem nicht vorgesehen. Über die Widersprüche in der sich stürmisch entwickelnden chinesischen Gesellschaft dringt wenig nach außen.“
Löw will dazu beitragen, dass wenigstens ein bisschen etwas durchschimmert. Der fast 1,4 Millionen Einwohner umfassende Riesenstaat ist trotz aller ökonomischer Öffnung kein Hort der Freiheit, das beweist schon die rigorose Zensur für Medien und Internet. Der Mehrwert des 256 Seiten starken Buches besteht nun beispielsweise darin, dass es einen Einblick gibt, wie sich diese auf den journalistischen Alttag auswirkt. „In der Praxis betreffen uns die Einschränkungen der gelenkten chinesischen Medienwelt nur indirekt“, schreibt Löw. „Kein Bewacher überprüft die Berichte für Radio und Fernsehen, bevor wir sie nach Wien schicken.“
Mit der strengen Zensur sei er allerdings konfrontiert gewesen, weil auch Auslandskorrespondenten den Beschränkungen im Internet ausgesetzt sind und allein schon, weil die chinesischen Medien, „die eine der Grundlagen unserer Arbeit sind“, gelenkt sind. Aber: „Für Auslandskorrespondenten gelten die inhaltlichen Vorschriften und Begrenzungen, an die sich chinesische Kollegen zu halten haben, nicht. Der ORF berichtet über den Dalai Lama genauso wie über Dissidentenprozesse und die Protestbewegung in Hongkong. Nie hat ein chinesischer Behördenvertreter in unsere ORF-Berichterstattung eingegriffen.“
Offenbar wird ausländischen Reportern gegenüber nicht brutal die Zensurkeule geschwungen, vielmehr erfolgt der Versuch der Einflussnahme subtiler. Etwa durch Gesprächsrunden im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei (KP). So berichtet Löw über seine Zeit als ORF-Berichterstatter aus China: „Probleme mit den Behörden gab es keine, obwohl wir heikle Fragen wie den europäisch-chinesischen Disput über Menschenrechte, den Smog in Peking und Kim Jong-un in Nordkorea nicht ausgespart haben. Die Diskussionen im Zentralkomitee haben uns geholfen, zu verstehen, wie Politik und Öffentlichkeit in China funktionieren.“
Das Buch ist auch eine zeitgeschichtliche Bilanz, wie der chinesische Staat in den vergangenen Jahren auf das Phänomen der aufkommenden Social Media reagierte. Um die Jahrtausendwende sei „die realsozialistische Normalisierung“ durch das Internet „durchbrochen“ worden. „Auf Weibo, dem chinesischen Twitter, schrieben Blogger mit Millionen Followern über Misswirtschaft, Smog und staatliche Willkür. Das freche Wirtschaftsmagazin „Caijing“ zog nach. In Guangzhou nützte die mutige Wochenzeitung „Southern Weekly“ den neuen Spielraum“, so das Resümee.
Dank der sozialen Medien sei zu Beginn des Jahrhunderts eine chinesische Öffentlichkeit im Entstehen gewesen. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: „Seit 2013 läuft eine mediale Konterrevolution. Unter Parteichef Xi Jinping erobert die Zentralmacht die Kontrolle über die veröffentlichte Meinung zurück. Ein Apparat von geschätzten zwei Millionen Aufpassern und Claqueuren zensiert, reguliert und lenkt die Onlinemedien für viele Hundert Millionen Internetbenützer.“
Von der kritischen Presse sei nur wenig übriggeblieben. „Nicht-staatliche Medienbetreiber sind zwar erlaubt: Aus Hongkong strahlt der private TV-Sender ‚Phoenix Television‘ in zahlreiche Haushalte auf dem Festland. Aber inhaltlich sind die Medien streng reguliert. Bei sensiblen Themen wie den Spannungen in Tibet, der Radikalisierung der uigurischen Minderheit oder den Unabhängigkeitsbestrebungen in Hongkong ist nur die offizielle Sprachregelung zugelassen.“ Das weltweit gespannte Internet ist in China verboten, blockiert. Stattdessen habe die chinesische Führung ein eigenes, chinesisches Internet - vielleicht sollte es besser „Intranet“ heißen - samt Facebook und Twitter geschaffen, das „unter der strengen Kontrolle der Partei funktioniert, und alles, was in irgendeiner Form der Partei gefährlich sein könnte, wird Tag für Tag aus dem Netz gelöscht“, wie auch ORF-Doyen Hugo Portisch in seinem Vorwort analysiert.
Löw setzt sich aber nicht nur mit den politischen und medialen Entwicklungen auseinander, er liefert auch Einblicke in das Alltagsleben: „Das Leben in einer Shoppingmall hat den Vorteil, dass alles, was man zum täglichen Leben braucht, in greifbarer Nähe ist. Geschäfte, die öffnen und wieder schließen, zeigen uns die Trends an. So staunen wir über Katzencafés, in denen vor allem junge Frauen ihren Kaffee trinken und dabei eine der vielen dicken Katzen streicheln können.“
Vielleicht sind auch diese „Miete-Katzen“ ein Ausdruck der fortschreitenden Kapitalisierung samt damit verbundenem Arbeitsstress, die vor allem jungen Menschen kaum Zeit für Haustiere lässt. Oder für die Partnersuche. „Heiraten auf Chinesisch“ spielt sich dann laut Raimund Löw folgendermaßen ab: „Am Wochenende findet beim Himmelstempel in Peking der Heiratsmarkt statt, den es in ähnlicher Form auch in Schanghai, Chongqing und vielen anderen chinesischen Städten gibt. In langen Reihen stellen sich Mütter und Väter auf, um ihre Sprösslinge möglichen Interessenten, das sind meist andere Eltern, anzupreisen.“
In den Steckbriefen seien Alter und Beruf, Größe und materielle Verhältnisse festgehalten. „Dabei lauten die Anforderungen an die jungen Männer, möglichst ‚groß, reich und gut aussehend‘ (gaofushuai) zu sein, das Ideal bei Frauen ist ‚schön, weiße Haut und dünn‘. Auf größeren oder kleineren Plakaten sind Fotos zu sehen.“ Wieder eines dieser Details, welche die abstrakte Abhandlung politischer, ökonomischer und damit sozialer Entwicklungen in China auf eine fast persönliche, und damit leichter verständliche Ebene herunterbrechen...
S E R V I C E - Raimund Löw/Kerstin Witt-Löw: Weltmacht China. Mit einem Vorwort von Hugo Portisch. Residenz-Verlag, Wien 2018. 256 Seiten; 24.00 Euro. Ausgabe eBook (ePUB) 16,99 Euro. Das Buch wird heute, Montag, um 19:00 Uhr im Bruno Kreisky Forum (1190 Wien, Armbrustergasse 15) vorgestellt. www.kreisky.org
~ WEB http://orf.at ~ APA014 2018-10-22/05:00