Teil 2

„Making a Murderer“ kehrt zurück: Und noch immer nicht frei

Die unfassbare, aber aus dem Leben gegriffene Geschichte von Steven Avery und Brendan Dassey wird in einer zweiten Staffel der Netflix-Erfolgsdoku weitererzählt. Im Zentrum steht Staranwältin Kathleen Zellner, die die Verteidigung von Steven Avery übernommen hat.

Von Matthias Sauermann

Manitowoc (Wisconsin) – Die Doku-Serie schlug vor drei Jahren ein wie eine Bombe: Als „Making a Murderer“ beim Streamingdienst Netflix debütierte, saßen Millionen gebannt vor den TV-Geräten. Dass eine Dokumentation die Massen anspricht, ist ungewöhnlich.

Aber sie hat es in sich: Es geht um einen bereits einmal unschuldig inhaftierten Mann, der erneut wegen Mordes vor Gericht gestellt wird. Wieder gibt es ernsthafte Zweifel an dessen Schuld. Es geht um seinen intellektuell beeinträchtigten Neffen, der von Polizisten zu einem Geständnis gedrängt wird – und ebenfalls verurteilt wird. Und schließlich geht es um Polizisten, die verdächtigt werden, Beweismittel untergejubelt zu haben. Gegen sie läuft nämlich just zu diesem Zeitpunkt eine Millionen-Klage wegen der 18 Jahre, die der Verdächtige zuvor unschuldig in Haft verbracht hatte. Ein Drehbuch könnte nicht spektakulärer sein – nur ist in diesem Fall alles Realität.

Nach der ersten Staffel blieb bei vielen Wut übrig ob eines Justizsystems, das die Unschuldsvermutung (in diesem Fall) offensichtlich über Bord geworfen hat. Es berichteten nicht nur Medien weltweit über den Kriminalfall, es bildete sich auch eine Community im Internet, die Akten und Beweismittel durchforstete, Theorien aufstellte und auf eigene Faust versuchte, Steven Avery und Brendan Dassey zu entlasten.

Staranwältin übernahm Verteidigung Steven Averys

Auch von der Unschuld Averys überzeugt wurde durch die Serie Staranwältin Kathleen Zellner. Die 61-Jährige hat bereits mehr als ein Dutzend unschuldig Verurteilte aus der Haft befreit – und plant, auch Steven Avery zu ihrer Liste hinzuzufügen.

Zellner ist es auch, die nun im Zentrum der zweiten Staffel von „Making a Murderer“ steht. Das TV-Team folgte ihr in den vergangenen zwei Jahren bei ihren Bemühungen, die Unschuld von Avery zu beweisen. Wir sehen Zellner, wie sie versucht, die Theorie der Staatsanwaltschaft zu zerpflücken, wie sie mit Zeugen spricht und Experimente durchführt, die essentielle Theorien der Anklage widerlegen.

Eigener Aussage zufolge hat Zellner Avery davor gewarnt, sie zu engagieren, wenn er doch schuldig sei. „Wenn du mich engagierst und schuldig bist, vertrau mir – ich werde einen viel besseren Job machen als die Staatsanwaltschaft. (...) Du müsstest ein Idiot sein, wenn du mich engagierst, aber schuldig bist“, erklärt Zellner in der Serie.

Staranwältin Kathleen Zellner vertritt Steven Avery und versucht, dessen Unschuld vor Gericht zu beweisen.
© Netflix

Dasseys Geständnis wird vor Gericht angefochten

Auf der anderen Seite steht Averys Neffe Brendan Dassey, zum Zeitpunkt des Mordes 16 Jahre alt. Während nach der ersten Staffel bei vielen noch Zweifel herrschten ob der Unschuld Averys, war sich die Netzgemeinde bei Dassey fast einhellig einig: Durch eine völlig rücksichtslose Befragungstaktik der Behörden wurde Dassey ein falsches Geständnis entlockt. Die Polizisten versprechen ihm, dass er nichts zu befürchten habe, wenn er kooperiere. Über weite Teile der Befragung rät Dassey anschließend sichtlich herum, was die Polizisten von ihm hören wollen. Wie wenig der 16-Jährige begriff, was vor sich ging, zeigt eine Aussage während der Befragung besonders deutlich. Kurz nachdem er den Mord gestanden hatte, fragte er die Beamten, ob er bald gehen könne – weil er in der nächsten Schulstunde ein Projekt abgeben müsse.

Brendan Dassey mit seiner Mutter Barbara Tadych (ehem. Janda) und seinem Stiefvater Scott Tadych (l.).
© Netflix

Bereits Minuten nach der Befragung, als die Polizeibeamten das Zimmer verließen und seine Mutter sich zu ihm gesetzt hatte, sagte Dassey dann: „They got to my head“ (sinngemäß: „Sie sind in meinen Kopf eingedrungen“). Andere Beweise oder Indizien gegen Dassey existieren nicht.

Die Anwälte Dasseys Laura Nirider und Steve Drizin versuchen nun, vor Gericht zu beweisen: Dassey wurde durch die Befragung der Polizisten seiner Rechte beraubt. Sie hätten keine Rücksicht darauf genommen, dass sie einen Jugendlichen mit deutlich unterdurchschnittlicher Intelligenz vor sich hatten. Sie hätten während des Verhörs unlauteren Druck auf ihn ausgeübt – und ihm Fakten in den Mund gelegt. Der Kampf darum wird die beiden schließlich vor den US-Supreme Court führen.

Die Mühlen der Justiz mahlen langsam

Obwohl „Making a Murderer“ in der zweiten Staffel eine bereits bekannte Geschichte erneut aufrollt und weiter begleitet, hat die Dokumentation nichts von ihrer Fähigkeit eingebüßt, Empörung bei den Zusehern hervorzurufen. Im Fall Brendan Dassey weicht Unverständnis der Fassungslosigkeit. Und auch bei Steven Avery wächst mit Fortdauer der Serie die Sicherheit, dass er tatsächlich ein zweites Mal wegen eines Verbrechens eingesperrt worden sein könnte, das er nicht verübte.

Ich glaube, dass man zu Unrecht Inhaftierte mit Bergarbeitern vergleichen kann, die nach einer Explosion im Bergwerk unter der Erde festsitzen. Man kann zwar mit ihnen kommunizieren, aber man weiß, dass ihnen irgendwann die Luft ausgehen wird. Man ist dort unten, mit ihnen.“
Kathleen Zellner (Anwältin)

Vor allem aber ist auch die zweite Staffel der True-Crime-Doku eine Anklage. Gegenüber einer Justiz, die Beschuldigten so wenig Chancen einräumt – geschweige denn bereits Verurteilten. Gegenüber einem System, das sich aus Selbstschutz dagegen wehrt, Urteile aufzuheben – und wenn sie noch so weit hergeholt sind. Vor allem aber zeigt die Serie auch eines: Wie quälend langsam die Mühlen der Justiz arbeiten. Und wie sehr die Menschen darunter leiden, die das betrifft.

Genau das ist es, was „Making A Murderer“ ausmacht. Die Serie erlaubt einen seltenen und intensiven Blick hinter die Kulissen und in die Psyche eines jahrzehntelang – weite Teile davon bereits bewiesenermaßen unschuldig – Inhaftierten und dessen Angehörigen. „Ich glaube, dass man zu Unrecht Inhaftierte mit Bergarbeitern vergleichen kann, die nach einer Explosion im Bergwerk unter der Erde festsitzen. Man kann zwar mit ihnen kommunizieren, aber man weiß, dass ihnen irgendwann die Luft ausgehen wird. Man ist dort unten, mit ihnen“, beschreibt Averys Anwältin Kathleen Zellner an einer Stelle ihre Erfahrungen.

Steven Avery (r.) mit seinen Eltern Dolores und Allan Avery.
© Netflix