Die Kunst des reflektierten Lebens
Angewandte Ethik oder das Bedürfnis nach Orientierung in Zeiten der Krise der Moral und die Kritik an modernen Moralvorstellungen.
Von Helmut Reinalter
Fragen der Ethik stoßen heute wieder auf großes Interesse, weil die Diskussionen über Sinn- und Orientierungskrisen und die Krise der Vernunft an Intensität zugenommen haben, die Folgen der Risikogesellschaft deutlicher hervortreten und vor allem durch den Terrorismus und die Flüchtlingskrise an Aktualität zugenommen haben, der fortschreitende Wertewandel häufig beklagt wird und an den Universitäten eine Rehabilitierung der Praktischen Philosophie erfolgt. Entscheidungen in verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen hängen sehr häufig mit fundamentalen Fragen zusammen. Nicht nur wissenschaftliche Theoretiker, sondern auch Praktiker interessieren sich immer mehr für Grundsatzfragen der Ethik. Dies verdeutlichen vor allem die zunehmenden postgradualen Studiengänge über philosophische Praxis. Dabei werden vor allem ethische Probleme, die in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft relevant sind, aus interdisziplinärer Perspektive diskutiert. In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass die Philosophie eine besonders hohe Praxistauglichkeit aufweist, weil auch für ethische Fragestellungen klares, vernünftiges Denken von besonderer Bedeutung ist. Mit der Philosophie kommt es auch zu Veränderungen in der Art und Weise, wie man mit auftretenden Problemen in unserer Gesellschaft sinnvoll umgehen kann. Dabei spielt auch der Begriff „Verantwortung“ heute in der Ethik eine zentrale Rolle.
Angewandte Ethik als Bereichsethiken
Im Zusammenhang mit der Praktischen Philosophie ist vor allem die Angewandte Ethik in das Zentrum gerückt. Sie ist allerdings mit dem Grundproblem konfrontiert, dass sie formale Positionen einer Allgemeinen (normativen) Ethik auf konkrete gesellschaftliche Felder und Fälle übertragen soll. Dabei muss sie sich mit den Anforderungen einer sich dynamisch entwickelnden Lebenswelt auseinandersetzen und sich in gewisser Weise von der ausschließlich fachphilosophischen Prinzipienreflexion lösen. Gleichzeitig muss sie aber auch die Aufgabe übernehmen, selbst – ausgehend von der praktischen Erfahrung innerhalb ihres jeweiligen Anwendungsbereiches – ihren Beitrag zur Theorie der philosophischen Ethik leisten, um praktische Antworten auf spezifische Fragen ihrer Anwendungsgebiete zu finden. Angewandte Ethik lässt sich nur in enger Anlehnung an die allgemeine oder normative Ethik genauer bestimmen. Sie ist eigentlich die Reflexion über moralischen Handlungsbedarf. Dafür wurde auch der Begriff „Bereichsethiken“ in den Diskurs eingeführt. Die Notwendigkeit Angewandter Ethik ergibt sich heute aus drei Gründen:
1. Wissenschaft und Technik haben völlig neue Horizonte eröffnet.
2. Der sich in den Industriestaaten herausbildende Individualismus, der sollensethische Fragen zunehmend mit strebensethischen Behandlungen beantwortet.
3. Das autoritäre Gewissen wird zunehmend von einem autonomen abgelöst.
Da sich anwendungsorientierte Ethik auch mit den Grenzbereichen verschiedener Wissenschaften beschäftigt, muss sie einen Wissenstransfer zwischen der philosophischen Ethik und den anderen Disziplinen ermöglichen. Dabei geht es vor allem um die Bereitstellung von Orientierungswissen und Entscheidungshilfen für gesellschaftliche Probleme. In diesem Sinne ist Angewandte Ethik auch ein Projekt der Aufklärung. Zugleich darf sich aber der Diskurs der Angewandten Ethik nicht der Gefahr aussetzen, der rationalistischen Versuchung einer Neuerfindung des Moralischen zu erliegen. Zu den wichtigsten Bereichsethiken zählen heute Medizinethik, Bioethik, Tierethik, Sozialethik, Wirtschaftsethik, ökologische Ethik, Technikethik, Rechtsethik, Politische Ethik sowie Medienethik, um nur die wichtigsten zu nennen.
Die Medizinethik befasst sich mit Problemen des moralisch Erlaubten und Zulässigen im Umgang mit menschlicher Krankheit und Gesundheit. Für diese Ethik ist die Tätigkeit des Arztes eine Konkretisierung der allgemeinen Norm, hilfsbedürftigen Menschen in angemessener Weise zu helfen. Der Arzt übernimmt die Pflicht, zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit des Menschen wirksame Mittel einzusetzen, ohne dem Kranken zu schaden oder ihn gegen seinen Willen zu behandeln. Zu den wichtigsten Problemfeldern der Medizinethik zählen heute der Schwangerschaftsabbruch, die Euthanasie, die Apparatemedizin, die Manipulation am Erbmaterial, Humanexperimente, die künstliche Erzeugung von Menschenleben, die Gehirnchirurgie, die Organverpflanzung, die Genkartierung, die Informationspflicht und der Paternalismus. Die Bioethik umfasst als Gegenstand das gesamte Leben, nicht nur das menschliche, sondern auch das Leben aller in der Natur vorkommenden Organismen. Besondere Aktualität und Brisanz erfuhr sie durch die modernen Gentechnologien und die Molekularbiologie. Die Wirtschaftsethik prüft normativ die ökonomische Realität. Sie versucht, durch ethische Reflexion ökonomischen Handels zu einer Erweiterung des wirtschaftlichen Rationalitätsbewusstseins beizutragen. Bei der ökologischen Ethik geht es um den richtigen Umgang des Menschen mit der Natur. Anlass für dieses neue ethische Interesse bilden die Umweltprobleme, die seit vielen Jahrzehnten besonders in den Industriestaaten deutlich wurden, wie z. B. der Klimawandel. Als Reaktion darauf sind Forderungen nach einer neuen Ethik der Verantwortung für die Umwelt erhoben worden.
Die Technikethik ist heute zu einer der wichtigsten Bereichsethiken geworden, weil die wissenschaftlich geleistete Technik die Arbeits- und Lebenswelt des Menschen im globalen Maßstab immer nachhaltiger beeinflusst und umgestaltet. Primäre Problemfelder sind hier die Sicherung der globalen Umwelt, die Klärung der moralischen Erlaubtheit bzw. Nicherlaubtheit, der militärischen und zivilen Nutzung der Kernenergie in Bezug auf Folgen, Lasten und Risiken ihrer Verwendung, die Abschätzung von Gefahren und Chancen der Prägung, Bildung, Manipulation und Deformation des Menschen durch die modernen Medien, die Computertechnik, die Digitalisierung und die künstliche Intelligenz. Zwischen Ethik und Recht gibt es vielfältige Beziehungen, die Gegenstand philosophischer Kontroversen sind. Die wesentliche Frage lautet in diesem Zusammenhang: Welches Recht ist eigentlich gerecht? Die Rechtsethik konkretisiert die ethische Grundfrage, welches menschliche Verhalten für das Recht gerechtfertigt erscheint. In den Theorien der Rechtsethik spielen bei der Konkretisierung heute vor allem materielle Gerechtigkeitsprinzipien eine zentrale Rolle. Die Politische Ethik befasst sich allgemein mit dem Leben und den Strukturen der Gesellschaft. Sie kümmert sich um die Moral der politischen Auseinandersetzung und auch um die Sicherung eines „guten Lebens“ der Bürger. Heute wird der ethische Gehalt von Staatsverfassungen in erster Linie unter der Perspektive der Menschenrechte gesehen. Gegenstand der Medienethik sind alle Kommunikationsmittel, insofern sie Institutionen für die Vermittlung von Informationen, Meinungen und Kulturgütern darstellen. Als bereichsspezifische Ethik befasst sie sich mit den verschiedenen Medientechniken und den damit handelnden Personen, aber auch mit den vieldimensionalen gesellschaftlichen Wirkungen der Medien. Allen diesen hier erwähnten Bereichsethiken geht es letztlich um die Erklärung der wechselseitigen Angewiesenheit vor allem von Ethik und Psychologie, Soziologie, Theologie, technische Wissenschaften, Politikwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Rechtswissenschaften und Pädagogik. Es kommt ihnen dabei die Aufgabe zu, jene Bedingungen zu konstruieren, die menschliches Handeln als ethisch begreifen lassen.
Gutes Leben und Glück
In der heutigen Diskussion über Angewandte Ethik gewinnt immer mehr die Frage der Lebensgestaltung bzw. Lebenskunst an Bedeutung. Dabei geht es nicht so sehr um eine praktisch ausgeübte philosophische Lebensform, sondern mehr um eine Reflexion des Lebens, also darum, wie dieses bewusst gelebt werden könnte. Unter Lebenskunst versteht man die Möglichkeit bzw. den praktischen Versuch, ein Leben reflektiert zu führen. In diesem Sinne ist Lebenskunst die Rückkehr zum einzelnen Individuum, das versucht, sich selbst zu gestalten und sein Leben zu formen. Der französische Philosoph Michel Foucault hat dies mit dem Begriff „Ästhetik der Existenz“ beschrieben.
Die Frage nach einem glücklichen, gelingenden oder „guten“ Leben spielt in der Angewandten Ethik eine zentrale Rolle. Dafür gibt es mehrere Gründe: ein wachsendes Bedürfnis nach Sinn und Orientierung auch in Fragen individueller Lebensführung, die Krise der Moral und die Kritik an modernen Moralvorstellungen. Die Probleme beginnen bereits mit dem Sinn der Frage nach dem „guten Leben“. Oft ist diese Frage als eine nach dem „Glück des Menschen“ aufgefasst worden. Dieser Begriff ist aber mehrdeutig. „Gutes Leben“ kann ein sinnvolles, ein bewundernswertes oder ein ethisch wertvolles sein. Häufig wird „gutes“ mit „glücklichem“ Leben gleichgesetzt. Deshalb wurde statt dem „guten“ Leben auch der Begriff „gelingendes“ Leben in die Diskussion eingeführt. Die Frage, wie eigentlich zu leben sei (Platon), hängt sehr eng mit ihrem spezifischen Ganzheitsbezug zusammen und ist mit Gründen verbunden, die für eine Lebensform entscheidend sind. Wie die Rehabilitierung des „guten Lebens“ als Gegenstand der Angewandten Ethik ist auch die Glücksphilosophie wieder stärker in den Mittelpunkt der Praktischen Philosophie gerückt. Sie knüpft an entsprechende Ansätze aus der griechischen Antike und Klassik an. Die Glückthematik ist für die Ethik in zweifacher Hinsicht von Bedeutung geworden: Moralphilosophische Ansätze müssen sich daran prüfen lassen, inwieweit sie das menschliche Glück fördern oder hindern, und ethische Positionen kommen ohne eine inhaltliche Bestimmung des „guten“ Lebens und des menschlichen Glücks nicht aus. Judith Glück schrieb zu diesen Themen ein kluges Buch und verband das Glück mit der Frage, wie Menschen „weise“ werden können. Sie untersucht die Entwicklung von Weisheit und stellt als Ergebnis ihrer Glücksforschungen fünf Eigenschaften vor, über die nach ihrer Auffassung nur „weise“ Menschen verfügen. Diese Prinzipien sind: Offenheit, der gute Umgang mit Gefühlen, Einfühlungsvermögen, kritische Reflexion und die Überwindung von Kontrollillusionen. Diese fünf Ressourcen zeigen sich bei Menschen in reflektierter, aber auch in vereinfachter, praktischer Form. Sie können sich aber gegenseitig befruchten und dadurch eine Verstärkung erzielen.