Festspielfinale in Erl: Die Stunde der Frauen
Debussys Naturmusik, Mahlers Vierte und Mozarts d-moll-Klavierkonzert in strahlender Technik und tiefer Musikalität.
Von Wolfgang Otter
Erl –Man könnte es als ein Signal sehen: Am Ende der ersten Saison nach der Kuhn-Ära steht eine Frau am Dirigentenpult. Frauen und ihre Vorwürfe gegen den gefeierten Chef haben zuvor den Festspielbetrieb ins Wanken gebracht. Doch von Wanken war gestern bei der sonntäglichen Abschlussmatinee im Festspielhaus nichts zu merken – weder auf noch abseits der Bühne. Anja Bihlmaier als Dirigentin war vielmehr ein Blick in die Zukunft, wie auch die weitere gesamte Matinee. Die deutsche Musikerin gehört zu den wenigen erfolgreichen Dirigentinnen in unseren Breiten. Von 2015 bis 2018 war Anja Bihlmaier 1. Kapellmeisterin und stellvertretende Generalmusikdirektorin am Staatstheater Kassel. Sie steht für eine Entwicklung im Musikgeschäft, die die nächsten Jahre auch in Erl sehr deutlich spürbar sein dürfte.
Zweite Frau im Finale der Festspiele war die in Erl bestens bekannte junge Pianistin Mélodie Zhao. Bleibt noch die nicht minder befähigte Sopranistin Maria Radovea. Drei starke Frauen, deren Stunde am Sonntag schlug.
Vorerst im „Prélude à l’après-midi d’un faune“ von Claude Debussy. Bihlmaier machte einen gemächlich angelegten Blick auf den „Nachmittag des Fauns“, ließ den Musikern Zeit, das impressionistische Tongemälde zu entwickeln.
Zeit, die man sich auch beim folgenden Klavierkonzert in d-Moll von Wolfgang Amadeus Mozart gewünscht hätte. Das Werk passte ebenfalls bestens in diesen Vormittag der Fingerzeige in die Zukunft. Mozart schrieb gewissermaßen das erste sinfonische Klavierkonzert, ein Wegweiser für folgende Komponistengenerationen.
Mélodie Zhao empfahl sich bereits früher in Erl für eine große Karriere. Und so fand Mozart eine Interpretin, die mit traumwandlerischer technischer Sicherheit durch die Läufe rauschte. Nur eines fehlte: Das geheimnisvolle, sich düster anbahnende Unheil. Bei Zhao wie Bihlmaier gleichermaßen. Da, wo die Violinen seufzen, die Bässe mit Triolen eine unheilvolle Stimmung heraufbeschwören, dirigierte Bihlmaier zu straff und kompromisslos drüber, während im zweiten Satz wiederum Zhao zu wenig die Melodie auskostete. Erst im übersprudelnden dritten Satz war Mozart ganz in Erl angekommen. Mutig und technisch atemberaubend gespielt, gerieten die von Zhao selbst komponierten Kadenzen. Dabei blickte sie weit in das späte 19. Jahrhundert hinein, Fanz Liszt ließ da genauso grüßen wie Zhaos spätromantisches Herz.
Nach der Pause kam dann Bihlmaier zu ihrer großen Stunde – und die Zuhörer zu einem Höhepunkt dieser Festspiele: Gustav Mahlers vierte Sinfonie. Sie ist die letzte der drei Sinfonien, in der der Komponist Gedichte aus der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ von Clemens Brentano und Achim von Arnim vertonte. Zugleich stellt sie zur damaligen Zeit einen kompositorischen Wegweiser dar. Mahler schreitet über die Spätromantik hinaus, in Richtung Neuer Musik. Eine Humoreske wollte er eigentlich schreiben, aber wie so oft bei Mahler führt die Musik am Rand des Abgrundes entlang. Aber nicht die Interpretation von Bihlmaier und den zur ganzen Meisterschaft auflaufenden Orchestermusikern.
Prägnanz, Verspieltheit, üppige Phrasen und Harmonien, die Musiker folgten ihrer Dirigentin gehorsam, die sie mit sicherer Hand und großen Gesten durch das Werk führte, bis sie gemeinsam im dritten Satz entschwebten. Eine wunderschöne Interpretation! Und zuletzt gesellte sich noch Maria Radoeva dazu und ließ das Publikum mit ihrer herrlichen Sopranstimme in die im Lied beschriebene naive, reine Kinderwelt blicken. Den begeisterten Applaus der Zuhörer hatten sich die Musiker redlich verdient.