Innenpolitik

Vorarlberg ist anders

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Im äußersten Westen wird seit Wochen für eine menschliche Asyl- und Fremdenpolitik demonstriert. Das lässt sich weder mit „linker Willkommenskultur“ noch mit „naiven Gutmenschen“ diffamieren.

Von Johannes Huber

Demonstrieren ist in Vorarlberg verpönt“, sagt Klaus Begle. Umso bemerkenswerter, was der 55-Jährige in diesem Herbst zusammengebracht hat: In der 15.000 Einwohner zählenden Stadt Hohenems findet auf seine Initiative hin Woche für Woche eine Sonntagsdemo statt. Das Anliegen entspricht nicht unbedingt der gesamtösterreichischen Stimmungslage – es ist einer menschlichen Asyl- und Fremdenpolitik gewidmet. Hunderte Teilnehmer versammeln sich regelmäßig bei Wind und Wetter, Regen oder Schnee.

Ziel des Unmuts ist auch schon Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) geworden. Bei einem Besuch im Landhaus musste er Stellung nehmen zur Abschiebung einer armenisch-iranischen Familie, bei der ein Dreijähriger von seiner Mutter getrennt worden war. Das ging durch die Medien. Die Familie war im ländlichen Bregenzerwald integriert, der Gemeinderat ihres Wohnorts Sulzberg machte sich für sie stark: In einem einstimmigen Beschluss wies er ausdrücklich darauf hin, dass geflüchtete Menschen „als Mitbürgerinnen und Mitbürger“ wahrgenommen werden. Motto: Sie gehören zu uns. Also stehen wir hinter ihnen.

Dieses Vorarlberg ist anders. Rechte mögen von „linker Willkommenskultur“ und „naiven Gutmenschen“ sprechen, sie machen es sich damit jedoch zu einfach. Sulzberg ist tiefschwarz, Begle Mitglied der Hohenemser ÖVP-Fraktion. Und auf seinen Kundgebungen treten bisweilen auch Unternehmer auf, wie Johannes Collini – seines Zeichens über die Landesgrenzen hinaus bekannt als Arbeitgebervertreter bei Metaller-Lohnrunden.

Vorarlberger sind nicht bessere und nicht schlechtere Menschen als Burgenländer, Oberösterreicher, Kärntner oder Tiroler. Wenn man erklären will, warum sie sich so sehr gegen das zur Wehr setzen, was von der Bundesregierung als alternativlose Asyl- und Fremdenpolitik dargestellt wird, muss man vielmehr anfangen, in der Geschichte des Landes zu graben, um auf Antworten zu stoßen.

Zuwanderung hat im äußersten Westen eine lange Geschichte: Im 18. Jahrhundert kamen zunächst die Trentiner. Sie hießen Bertolini, Girardelli oder eben auch Collini, und sie wurden gebraucht. Die Textilindustrie wuchs, die Arlbergbahn wollte durch den Fels geschlagen werden. 1910 stammte jeder fünfte Bewohner in Hard am Bodensee von Vorfahren in der norditalienischen Region ab. Später folgten Südtiroler, Türken, Serben, Kroaten, Bosnier und zuletzt Syrer und Afghanen. Zwischendurch gesellten sich „Innerösterreicher“ dazu, vor allem Steirer und Kärntner.

Wobei es nicht so ist, dass sie alle besonders freundlich empfangen wurden. Im Gegenteil: Bis in die jüngste Vergangenheit hinein wurden Ausländer viel eher als Gastarbeiter betrachtet, die nicht Teil des öffentlichen Lebens sind, sondern Schichtdienst leisten, schlafen, Schichtdienst leisten und irgendwann wieder wegziehen. Ihr Schicksal war folglich das einer Parallelgesellschaft, untergebracht in alten Rheintalhäusern, die Einheimischen nicht mehr gut genug waren.

Im Übrigen war Fremdenfeindlichkeit gang und gäbe. „Das erfolgreichste Mittel, politische Gegner im Land zu diskreditieren, schien jahrzehntelange darin zu bestehen, deren Bestrebungen als ,landfremd‘ oder ,volksfremd‘ abzuqualifizieren“, schreibt der Historiker Werner Bundschuh in einem Text über „Mentalität, Identität, Integration“. Noch 1961 habe der damalige Landesamtsdirektor Elmar Grabherr die Ausschreibung von Stellen im Land von der „landsmannschaftlichen Herkunft“, symbolisiert durch so „objektive Tatsachen“ wie „Abstammung“ und „Beherrschung der Mundart“, abhängig machen wollen.

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In den 1990er-Jahren kam es zu einer gegenläufigen Entwicklung. Ausgerechnet in dieser Zeit, wie man dazusagen muss: Das sind die Jahre, in denen Jörg Haider erkannte, dass sich mit ausländerfeindlicher Politik Wahlen gewinnen lassen. Und das wiederum hat sich zu einem Markenzeichen rechtspopulistischer Politik in ganz Europa entwickelt.

In Vorarlberg begann die Politik vor einem Vierteljahrhundert jedoch, „Gastarbeiter“ als Mitbürger zu sehen, wie Bundschuh dokumentiert: Kulturlandesrat Guntram Lins (ÖVP) startete eine Initiative, die die unterschiedlichen Wurzeln würdigte und einen Austausch förderte. Titel: „KultUrSprünge“. Landeshauptmann Martin Purtscher (ÖVP) hielt zur Eröffnung des Jüdischen Museums in Hohenems 1991 eine Rede, die den Gesinnungswandel besonders gut zum Ausdruck bringt: „Wir können aus den vertanen Chancen lernen, die Einsichten für den Umgang mit den religiösen, kulturellen Minderheiten von heute nützen. Wir können daraus lernen, Minderheiten nicht als Fremdkörper zu sehen, sondern als Bereicherung zu begreifen, gerade in einem traditionellen Einwanderungsland wie Vorarlberg. Das ist leicht gesagt, aber bei Weitem nicht so leicht zu leben. Und doch bin ich überzeugt davon, dass die Vision einer multikulturellen Gesellschaft auch für Vorarlberg eine große Chance sein kann.“

Martin Purtscher war und ist kein Träumer. Vor seiner Zeit als Landeshauptmann war der heute 90-Jährige als Manager bei einem internationalen Lebensmittelkonzern tätig. Er verkörpert, worauf es ankommt. Erstens: Vorarlberg braucht fleißige Hände. Wichtiger als die Herkunft eines Menschen ist daher seine Bereitschaft, etwas zu leisten. Zweitens: Vorarlberg hat aufgrund seiner langen Zuwanderungsgeschichte die Erfahrung gemacht, dass sich die meisten unterm Strich so weit einbringen, dass das gesamte Land profitiert.

„Es gäbe Vorarlberg, so wie wir es heute kennen, nicht, wenn es nicht seit jeher Migration gegeben hätte“, betonte der Unternehmer Johannes Collini vor Weihnachten auf einer der Hohenemser Sonntagsdemos. Sein Urgroßvater Damian war einst aus dem trentinischen Mortaso zugewandert. Aus dessen Scherenschleiferei ist ein Unternehmen mit 1400 Mitarbeitern geworden, das auf Oberflächenbeschichtungen spezialisiert ist.

Sehr wahrscheinlich sind es Geschichten wie diese, die dazu geführt haben, dass ausgerechnet in diesem Land, in dem der Stimmenanteil der SPÖ verschwindend klein und der der ÖVP sehr groß ist, am intensivsten daran gearbeitet wird, Chancengleichheit herzustellen: Wo eben jeder gebraucht wird und man weiß, dass alle sehr viel können, wenn man sie nur fördert und fordert, gibt es weniger ideologische Barrieren, an einer Gemeinsamen Schule der Zehn- bis 14-Jährigen zu arbeiten, wie das vor dem Arlberg getan wird. Das ist eher eine ganz pragmatische Schlussfolgerung, die vor allem auch von Wirtschaftsvertretern geteilt wird: Sie wissen, dass das letzten Endes eigentlich nur im Sinne des Standortes sein kann.

Zu Vorarlberg gehört sehr vieles, was die Demonstrationen für eine menschliche Asyl- und Fremdenpolitik erklärt: Die Frauen und Männer hier leben seit einer gefühlten Ewigkeit auf sehr engem Raum mit verhältnismäßig vielen Fremden zusammen, die sie irgendwann vielleicht nicht mehr als solche wahrnehmen. Allen geht es relativ gut. Unternehmen prosperieren, die Arbeitslosigkeit ist gering. Naheliegend, dass Ausländer weniger als Bedrohung wahrgenommen werden, als dies anderswo der Fall ist. Das ist das eine.

Das andere: In den zahlreichen Kleingemeinden wird Eigeninitiative ebenso großgeschrieben wie christliche Caritas. Hilfe für diejenigen, die Hilfe brauchen, ist vielen eine Bürgerpflicht. Dazu braucht es keinen Staat. Diesem wird vielmehr Widerstand entgegengebracht, wenn er etwa einen funktionierenden Umgang mit Flüchtlingen stört, schikanös agiert, polemisiert oder eben Familienmitglieder abschiebt – wie jene aus dem Bregenzerwald, die vom Gemeinderat demonstrativ als „Mitbürgerinnen und Mitbürger“ definiert werden.

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