Nervosität vor Parlamentsvotum über Brexit-Vertrag am Dienstag wächst
London (APA/AFP/Reuters) - Vor der historischen Abstimmung des britischen Parlaments über das Brexit-Abkommen mit der EU wächst innerhalb de...
London (APA/AFP/Reuters) - Vor der historischen Abstimmung des britischen Parlaments über das Brexit-Abkommen mit der EU wächst innerhalb der britischen Regierung die Nervosität: Premierministerin Theresa May warnte am Sonntag, eine Ablehnung des Vertrags wäre ein „Bruch des Vertrauens in unsere Demokratie“.
Ihr Wirtschaftsminister Greg Clark warnte vor den „verheerenden“ Konsequenzen auch für künftige Generationen, sollte der mit der EU ausgehandelte Vertrag im Parlament durchfallen. May erinnerte in einem Beitrag für den „Sunday Express“ daran, dass beim Referendum im Juni 2016 eine Mehrheit der Briten für den Austritt aus der EU gestimmt hatte. Das mühsam mit Brüssel ausgehandelte Abkommen abzulehnen, das einen geordneten Austritt ermögliche, würde das Vertrauen der Briten in die demokratischen Institutionen auf „katastrophale und nicht zu entschuldigende“ Weise erschüttern.
„Deshalb ist meine Botschaft an das Parlament an diesem Wochenende einfach: Es ist Zeit, die Spielchen zu beenden und das zu tun, was richtig für unser Land ist“, schrieb May weiter. Ähnlich hatte sich bereits zuvor Wirtschaftsminister Clark geäußert. „Ich hoffe, dass die Abgeordneten in den kommenden Tagen aufhören, das Geschehen vom Spielfeldrand aus zu kritisieren und stattdessen Verantwortung für die Zukunft des Landes übernehmen“, sagte er der deutschen Zeitung „Die Welt“ vom Samstag. Der Vorsitzende der Konservativen Partei von May, Brandon Lewis, warnte laut „Daily Mail“ vor einer „Brexit-Lähmung“, wenn der von der Premierministerin mit der EU ausverhandelte Vertrag abgelehnt werde.
Der Tory-Rebell Dominic Grieve sieht bei einem Szenario eines „no deal“ gar die Gefahr eines „nationalen Selbstmords“ der Briten. Grieve ist der Initiator des „Plan B“, der innerhalb von drei Tagen nach der erwarteten Ablehnung des May-Deals vorgelegt werden müsste, um einen „hard Brexit“, also einen vertragslosen Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union, zu vermeiden. Er, der ein zweites Brexit-Referendum anstrebt, bereitete May damit eine weitere Niederlage rund um ihre Brexit-Politik. Laut „Daily Mail“ wird Grieve vorgeworfen, vergangene Woche Parlamentspräsident John Bercow getroffen zu haben, um seine Forderung nach dem „Plan B“ umsetzen zu können. Bercow hatte daraufhin nur wenige Tage vor der wichtigen Abstimmung über das britische EU-Austrittsabkommen die Abgeordneten im Londoner Parlament die Spielregeln ändern lassen. Der Initiative von Grieve stimmten dann 308 gegen 297 Parlamentarier zu. Brexit-Befürworter warfen Bercow daraufhin vor, seine Unparteilichkeit verletzt zu haben. Dies wies eine Sprecherin von Bercow zurück. Der Parlamentssprecher treffe sich mit Vertretern aller Parteien, betonte sie.
Auch die britische Opposition hat angekündigt, sich im Parlament gegen einen EU-Austritt ohne Abkommen zu wehren. Es wäre „katastrophal“, wenn es zu einem ungeregelten Brexit käme, sagte der Chef der oppositionellen Labour-Partei, Jeremy Corbyn, am Sonntag. Sollte Premierministerin May bei der Abstimmung am Dienstag mit ihrer Vereinbarung scheitern, werde er bald ein Misstrauensvotum in Gang setzen. Die europafreundlichen Liberaldemokraten kündigten an, das Parlament werde einschreiten, um einen ungeregelten Brexit zu verhindern. Auf die Frage, ob Abgeordnete einen Antrag stellen könnten, den Austritt rückgängig zu machen, sagte Parteichef Vince Cable der BBC: „Das ist genau das, was passieren wird, und das sollten wir auch tun, weil es absolut außerordentlich und unverzeihlich wäre, wenn die chaotischen Umstände eines ungeregelten Brexit einträfen.“
Das britische Parlament stimmt am Dienstag ab 20.00 Uhr MEZ über das Austrittsabkommen mit der EU ab. Eine Ablehnung gilt als sehr wahrscheinlich. May warnte, in dem Fall drohe Ende März ein ungeregelter EU-Austritt mit gravierenden Folgen für die Wirtschaft - oder aber kein Brexit.
Nach Informationen der „Sunday Times“ plant eine Gruppe von Rebellen in Mays konservativer Partei und bei Labour bereits, die Parlamentsregeln für den Fall einer Abstimmungsniederlage so zu verändern, dass ihre eigenen Anträge Vorrang vor den Plänen der Regierung bekämen. Die Regierung drohe damit der Verlust ihrer Regierungsfähigkeit, schreibt das Blatt. Laut dem Blatt betrachtet Downing Street die Aussicht mit „extremer Sorge“. Eine Möglichkeit sei, dass die Abgeordneten dann per Gesetz den Brexit hinauszögern könnten. Der Tory-Abgeordnete Nick Boles sagte der „Sunday Times“, er arbeite bereits an einer Strategie, um einen harten Brexit zu verhindern. Seinen Plan werde er am Dienstag vorstellen.
Um ihren Deal doch noch durchzubekommen, bemüht sich May um „Zusicherungen“ in letzter Minute aus Brüssel - vor allem in der umstrittenen Auffanglösung für Nordirland. Die Backstop genannte Auffanglösung soll eine harte Grenze zwischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland vermeiden, falls nach einer 21-monatigen Übergangsfrist immer noch keine Lösung gefunden ist. In dem Fall würde Nordirland auf einigen Gebieten enger mit der EU verbunden bleiben als das restliche Großbritannien. Die Regelung ist in Großbritannien sehr umstritten. Ein britischer Regierungssprecher versicherte vergangene Woche, die Zusicherungen zur zeitlichen Befristung des Backstop würden „kurz vor der Abstimmung“ eingehen.
Laut „Daily Mail“ wird erwartet, dass EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Montag ein Schreiben an London schicke, in dem er angeblich eine Beschleunigung der Handelsgespräche mit den Briten in Aussicht stelle, um zu vermeiden, dass der Backstop jemals ausgelöst werden müsse. EU-Ratspräsident Donald Tusk wiederum wolle zusichern, dass alle 27 verbleibenden EU-Staaten die feste Entschlossenheit hätten, Ende 2020 neue geregelte Beziehungen mit Großbritannien zu haben. Sollte das nicht möglich sein, würden alle EU-Staaten spätestens Ende 2021 unterzeichnet haben. Dies würde bedeuten, dass Großbritannien nur für ein zusätzliches Jahr die Handels- und Zollregeln habe. Juncker bekräftigte, dass es sich allenfalls um „Klarstellungen“ handeln könnte. Nachverhandlungen des Abkommens schloss er erneut aus.
Überlegungen Londons, die Brexit-Notlösung für Nordirland nur mit Zustimmung des britischen Parlaments in Kraft treten zu lassen, wies unterdessen der Europa-Staatsminister im deutschen Auswärtigen Amt, Michael Roth, zurück. „Diese völkerrechtliche Verpflichtung kann nicht durch einen Beschluss des britischen Parlaments einseitig außer Kraft gesetzt werden“, sagte er der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“.