Berlinale: Zensurverdacht vor der Preisgala
Heute Abend wird bei der Berlinale der Goldene Bär vergeben. Der chinesische Wettbewerbsbeitrag „One Second“ wurde kurzfristig zurückgezogen.
Von Marian Wilhelm
Berlin –Dieter Kosslicks Abschied von der Berlinale holpert – und das nicht nur, weil am Tag vor der Preisverleihung heute Abend die Berliner Verkehrsbetriebe streikten. Quasi über Nacht ist der Berlinale – erstmals in 69 Jahren Festivalgeschichte – ein Wettbewerbsbeitrag abhandengekommen. Anfang der Woche wurden alle Vorstellungen des chinesischen Films „One Second“ abgesagt. Die Premiere wäre für Freitagabend vorgesehen gewesen. Die offizielle Begründung: „Technische Probleme.“ Wirklich glauben wollen das die wenigsten. Es gilt als wahrscheinlich, dass der Film von Zhang Yimou – der Regisseur erhielt 1988 für seinen in China umstrittenen Film „Rotes Kornfeld“ den Goldenen Bären – der chinesischen Zensur zum Opfer gefallen ist. Seit 2017 benötigen chinesische Filme, die im Ausland gezeigt werden sollen, eine Sondergenehmigung der Propaganda-Abteilung der kommunistischen Partei. Diese dürfte „One Second“, ein in Zeiten der Kulturrevolution spielendes Drama, nicht erhalten haben.
Wenige Tage vor dem Start der Berlinale wurde bereits der chinesische Film „Better Days“, der in der Reihe Generation angekündigt war, zurückgezogen. Auch dieser soll nicht fertig geworden sein. Das Branchenblatt Variety berichtet unter Berufung auf „eindeutige Quellen“, dass „Better Days“ die Zustimmung der Zensurabteilung fehlte.
Der scheidende Festival-Chef Kosslick hätte wohl nur allzu gerne die Protest-Trommel ausgepackt, um ein letztes Mal zu beweisen, dass seine Berlinale das politischste der drei Weltfilmfestivals ist.
Als der Iraner Jafar Panahi „Pardé“ und den 2015 mit dem Goldenen Bären ausgezeichneten Film „Taxi Teheran“ trotz Berufsverbot nach Berlin schmuggeln ließ, gab es Solidaritätsbekundungen für die Kunstfreiheit. Doch Kosslick ist seinen Filmemachern verpflichtet. Ohne ihr Povoir muss er schweigen.
Es konkurrieren also nur noch 16 Filme um den diesjährigen Goldenen Bären. Ein Jahr vor dem 70. Festivalgeburtstag und dem damit zusammenfallenden Dienstantritt eines neuen Leitungsduos plätscherte der Berlinale-Wettbewerb ohne Aufreger dahin. Die deutsche Kritik echauffierte sich zwar über Fatih Akins Mörder-Film „Der Goldene Handschuh“, der den gleichnamigen Roman von Heinz Strunk visuell kraftvoll in Szene setzt, in Zeiten von #MeToo aber tatsächlich etwas deplatziert wirkte. Brennend aktuell war hingegen das französische Missbrauchsdrama „Grâce à Dieu“ von François Ozon: Kirchenmänner müssen sich fast zeitgleich zum Festival vor Gericht verantworten.
Als Anwärter auf den Goldenen oder die Silbernen Bären werden derzeit aber eher experimentellere Arbeiten gehandelt: Angela Schanelec’ „Ich war zuhause, aber …“ oder „Synonyms“ des Franko-Israelis Nadav Lapid, zwei sehr eigenwillige, schwer zugängliche Thesenfilme. Auch den österreichischen Beitrag „Der Boden unter den Füßen“ von Marie Kreutzer sehen viele Festivalbeobachter als preiswürdig.
Vielleicht bleibt die Jury rund um Juliette Binoche aber auch sensibel für politische Schwingungen und entscheidet sich für den anderen chinesischen Film im Wettbewerb: „So Long, My Son“ von Wang Xiaoshuai setzt sich in gut drei Stunden Laufzeit mit den traumatischen Folgen der Ein-Kind-Politik auseinander.