Blick von außen

Die atomare Bedrohung Europas

Gipfeltreffen auf der Insel Guadeloupe zur Vorbereitung des NATO-Doppelbeschlusses. Bundeskanzler Helmut Schmidt, US-Präsident Jimmy Carter, der britische Premierminister James Callaghan und Frankreichs Staatspräsident Valériy Giscard d’Estaing. (v. l.)
© AFP

Von der sowjetischen SS-20 zum NATO-Doppelbeschluss zum INF-Vertrag.

Von Rolf Steininger

In diesen Tagen ist viel vom INF-Vertrag die Rede, den erst die USA und dann auch die Sowjetunion gekündigt haben. Es handelt sich dabei um jenen Vertrag, den US-Präsident Ronald Reagan und Sowjetführer Michael Gorbatschow am 8. Dezember 1987 in Washington unterschrieben hatten. Es war der erste, wahrhaft historische Abrüstungsvertrag, der Abbau und Vernichtung sämtlicher atomarer Mittelstreckenraketen – Intermediate Nuclear Forces (INF) – mit einer Reichweite von 500–5000 km in Europa vorsah. Um zu verstehen, was dieser Vertrag für Europa bedeutete, lohnt ein Blick zurück.

Gefahr für Europa

Es begann mit einer viel beachteten Rede, die Bundeskanzler Helmut Schmidt am 28. Oktober 1977 vor dem International Institute for Strategic Studies in London zum Thema „Grauzone“ hielt. Damit wurde jener Bereich der nuklearen Mittelstreckenraketen in Europa bezeichnet, der nicht von den amerikanisch-sowjetischen SALT II-Gesprächen – Begrenzung der strategischen interkontinentalen Atomraketen – abgedeckt war. Die Sowjetunion hatte dies durch die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20 genutzt. Die neuen Raketen besaßen jeweils drei atomare Sprengköpfe, waren mobil und verfügten über große Reichweite – bis 5000 Kilometer – und Zielgenauigkeit. Moskau hatte sich damit eine Erstschlagkapazität gegenüber den europäischen NATO-Verbündeten verschafft.

In seiner Rede wies Schmidt jetzt auf diese in Europa bestehende Disparität hin. Westeuropa müsse mit nuklearen Mittelstreckenraketen nachrüsten, falls die Sowjets ihre Raketen nicht wieder abbauen würden. Die Reichweite der eigenen Raketen sollte „über 1000 Kilometer liegen, damit das Ziel, die Bedrohung des sowjetischen Territoriums, erreicht wird“, wie im Auswärtigen Amt in Bonn notiert wurde. Erst angesichts einer solchen Gefahr würden die Sowjets bereit sein, ihre Raketen wieder abzubauen.

Schmidt kämpfte damals unermüdlich um Verbündete für diese Nachrüstung, die aus amerikanischer Sicht nicht unbedingt notwendig war: Washington setzte auf die eigenen Interkontinentalraketen. Schmidts Vertrauen in US-Präsident Carter war allerdings nicht besonders ausgeprägt. Gegenüber Italiens Ministerpräsident Giulio Andreotti äußerte er „in absoluter Offenheit“ und „mit der Bitte um Vertraulichkeit“ Zweifel an den Verbündeten in London und Paris und an der „Stetigkeit“ von Carter. Rom und Bonn sollten daher öffentlich auf das enorme militärische Übergewicht der Sowjetunion hinweisen, denn „eine einzige mobile, mit einem Mehrfachsprengkopf versehene sowjetische Mittelstreckenrakete kann, unabhängig voneinander, gleichzeitig die Städte Siena, Grosseto und Florenz zerstören. Das sowjetische Übergewicht ist sehr gefährlich.“ Das Argument überzeugte Andreotti von der sowjetischen Gefahr für Europa.

Das Treffen auf Guadeloupe

Wenig später gelang es Schmidt, Frankreichs Präsidenten Giscard d’Estaing von der Notwendigkeit zu überzeugen, das Thema in kleinem Kreis zu diskutieren. Der lud daraufhin für den 5.

6. Januar 1979 zu einem Vierertreffen mit ihm, Carter, dem britischen Premierminister Callaghan und Schmidt auf die Insel Guadeloupe ein.

Am 7. Dezember gab das Weiße Haus bekannt, dass Carter die Einladung angenommen habe, was insbesondere in Rom zu Verstimmung und großer Besorgnis führte. Botschafter Corrado Orlandi-Contucci überbrachte in Bonn eine Erklärung, die „sehr deutliche und scharfe Worte“ enthielt und in der betont wurde, dass der Ausschluss enger Alliierter grundlos Probleme schaffe, anachronistisch wirke und für die Gesamtheit der Allianz wie für die Gemeinschaft nicht gut sei. Staatssekretär van Well wiegelte ab und meinte, Guadeloupe sei „mehr eine Plauderei am Kamin, gewissermaßen ein Gespräch im Vorfeld der offiziellen Regierungspolitik“.

Guadeloupe war weit mehr als eine Plauderei am Kamin. Auf Bitten Giscards wurde kein Protokoll angefertigt. Ein großer Teil des Gesprächs wurde dann von Ministerialdirektor Ruhfus aus dem Gedächtnis aufgezeichnet. Nach Aussage von Schmidt war es ein gutes Treffen in einer ausgezeichneten Atmosphäre. Schmidt erklärte jedenfalls die Bereitschaft der Bundesregierung, beim nuklearen Modernisierungsprogramm mit Blick auf die SS-20 mitzumachen. Allerdings dürfe die Stationierung amerikanischer Raketen nicht allein auf die Bundesrepublik beschränkt bleiben, da sonst die Gefahr bestehe, dass diese von der Sowjetunion ausgesondert und gezielt unter Druck gesetzt werde.

Vier Wochen später präzisierte der deutsche NATO-Botschafter Pauls die Zusage Schmidts von Guadeloupe: „Sollten der Bundeskanzler und die Führung der relevanten Parteien eine solche Politik vertreten, wird sich die deutsche politische Öffentlichkeit von der Notwendigkeit überzeugen lassen. Das wird sich auf die europäischen Verbündeten auswirken und das deutsch-amerikanische Bündnis festigen, das unverzichtbar ist.“

108 Pershing II und 116 Cruise Missiles

Am 18. Juli 1979 legten die Amerikaner ihren Vorschlag für die Nachrüstung auf den Tisch: 108 Pershing II-Raketen und 116 landgestützte Cruise Missiles mit je vier Sprengköpfen. Die Raketen und 28 Cruise Missiles sollten in der Bundesrepublik stationiert werden, die übrigen Cruise Missiles in den Niederlanden, in Belgien, Großbritannien und Italien.

Schmidt suchte weiter Verbündete für den für Dezember anstehenden NATO-Beschluss. In erster Linie waren das weiter die Italiener. Am 19. September traf er mit Staatspräsident Alessandro Pertini zusammen, um noch einmal auf die gefährliche Lage hinzuweisen: „Die SS-20 können die USA nicht erreichen, aber europäische Städte auslöschen.“ Drei Wochen später überzeugte er Ministerpräsident Francesco Cossiga von der Gefährlichkeit der SS-20: „Sie hat drei Sprengköpfe, große Reichweite und erreicht von Alma Ata aus Bonn oder Rom, große Treffgenauigkeit und eine Mobilität, die sie fast unverwundbar macht“; das sei eine „ungeheure Verbesserung des sowjetischen Mittelstreckenpotentials“. Für die Entscheidung im Dezember werde er „notfalls auch die Existenz seiner Regierung in die Waagschale werfen, um die NATO-Entscheidung in Deutschland innenpolitisch durchzusetzen“. Cossiga: „Wir werden Deutschland nicht allein lassen.“ Als die Sowjets versuchten, Einfluss auf die bevorstehende Entscheidung der NATO zu nehmen und anboten, die SS-20 hinter den Ural zurückzuziehen, machte Außenminister Genscher dem sowjetischen Botschafter in Bonn noch einmal deutlich, worum es ging. Er wies auf die Gefährlichkeit der SS-20 hin, die auch hinter dem Ural gefährlich bleibe, denn „die sind nicht dazu bestimmt, in den Atlantik geschossen zu werden; sie sind schon jetzt auf die Bundesrepublik Deutschland und auf Westeuropa gerichtet; die Planquadrate bestehen bereits. Wir fühlen uns bedroht. Dies ist objektiv so.“

Der NATO–Beschluss

Am 12. Dezember 1979 beschloss die NATO in Brüssel den aus zwei Teilen bestehenden sogenannten Doppelbeschluss, nämlich:

1. 108 Pershing II-Raketen und 116 Cruise Missiles mit 464 atomaren Sprengköpfen in Europa zu stationieren, und 2. mit der Sowjetunion zu verhandeln, um durch „Rüstungskontrolle ein stabileres, umfassendes Gleichgewicht bei geringeren Beständen an Nuklearwaffen auf beiden Seiten zu erreichen“.

Der erste Teil des Beschlusses sollte ab 1983 umgesetzt werden, falls der zweite Teil bis dahin ergebnislos geblieben war.

Würde stationiert, würde eine von Süddeutschland aus gestartete Pershing II – Reichweite 1800 km – in fünf Minuten Ziele in der westlichen Sowjetunion – heute Ukraine und Weißrussland – und in weniger als acht Minuten Moskau treffen. Und dies mit extrem hoher Präzision: Treffgenauigkeit 50 Meter. Dadurch war die Verwendung von atomaren Sprengköpfen mit geringerer Sprengkraft – immerhin noch 1-5 Hiroshimabomben – möglich. Ein Marschflugkörper war zwar langsamer und hätte von der Bundesrepublik bis Moskau 150 Minuten gebraucht, hätte dabei aber in Bodennähe – etwa 30 m – die gegnerische Radarabwehr unterflogen und eine wesentlich größere Sprengladung – maximal 15 Hiroshimabomben – transportiert.

Der britische Außenminister Lord Carrington bezeichnete den Beschluss als „die wichtigste Entscheidung der letzten zehn Jahre“. Frankreichs Außenminister sprach von einem Wendepunkt sowohl im Ost-West-Verhältnis als auch hinsichtlich der Einstellung der Bevölkerung in den westlichen Staaten gegenüber Verteidigungsbemühungen.

Zuvor hatte Genscher noch einmal gegen eine Vertagung der Entscheidung plädiert, die auch für die Bundesrepublik nicht leicht gewesen sei. Er hatte die europäischen Partner daran erinnert, dass alle Sicherheit auf der Solidarität mit den USA beruhe:

„Wir können uns als Europäer Sicherheit nicht schenken lassen; wir müssen selbst aktiv daran mitwirken, dass die Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses garantiert bleibt.“ Am 10. Jänner 1980 meinte Schmidt zum amerikanischen Botschafter in Bonn, Walter Stoessel, mit Blick auf den Beschluss vom Dezember, da hätten die Europäer „großen Mut“ gezeigt; das sei so, „als wenn man die Minuteman-Raketen zwischen Boston und Philadelphia stationiere“. Der Botschafter drückte Schmidt gegenüber seine Bewunderung für die Art und Weise aus, in der er diesen Beschluss innerhalb seiner Partei, der SPD, durchgesetzt habe.

Die Stationierung

14 Tage nach dem NATO-Doppelbeschluss überfielen sowjetische Truppen Afghanistan. Präsident Carter sprach von einer ernsten Bedrohung des Friedens und einer flagranten Verletzung anerkannter Verhaltensregeln. Das Ende der Entspannung war eingeläutet. Den Nachrüstungsbeschluss betrachtete die Sowjetunion als Ultimatum. Schmidt hielt am Doppelbeschluss fest. Eine Woche vor seinem Sturz am 1. Oktober 1982 betonte er in einem privaten Gespräch, er sei bereit, „sich hierfür notfalls auch politisch oder sogar physisch umbringen zu lassen“.

Als die Abrüstungsverhandlungen in Genf ohne Ergebnis blieben, wurde unter der neuen Regierung Helmut Kohl ab Dezember 1983 mit der Stationierung der Pershing II-Raketen und Cruise Missiles in der Bundesrepublik begonnen. Und das trotz massiver, von Moskau finanzierten Massendemonstrationen.

Die Unterzeichnung des INF-Vertrages

Mit dem neuen Sowjetführer Gorbatschow begann ab 1985 eine neue Ära im Kalten Krieg. Beim zweiten Treffen zwischen ihm und US-Präsident Reagan legte der Sowjetführer ein detailliertes Abrüstungsprogramm vor: Innerhalb von zehn Jahren sollten alle strategischen Atomwaffen abgeschafft werden. Das war für den Anfang wohl zu viel, aber ein Jahr später, am 8. Dezember 1987, unterschrieben die beiden in Washington den INF-Vertrag: Sämtliche Pershing II, Cruise Missiles und SS-20 wurden in der Folge vernichtet.

Der Vertrag hielt immerhin bis Anfang 2019 – bis sich beide Seiten gegenseitig beschuldigten, ihn verletzt zu haben. Am 2. Februar 2019 kündigten die USA ihn, am nächsten Tag folgte Moskau. Die Kündigungsfrist läuft sechs Monate. Sollte es in dieser Zeit zu keiner Einigung kommen, wird es wohl wieder ein atomares Wettrüsten und damit auch wieder eine atomare Bedrohung Europas geben.