Lawinen-Katastrophe

20 Jahre Galtür: „Die Lawine ist ein Teil von uns“

Galtür wurde sicherer gemacht. Viele Steinmauern wie diese sollen die Häuser und die Menschen darin vor den Lawinen schützen.
© Thomas Boehm / TT

Am 23. und 24. Februar sind 20 Jahre seit den gewaltigen Lawinen von Galtür und Valzur vergangen. Die Häuser wurden wieder aufgebaut, doch das Unglück hat viele Spuren hinterlassen.

Von Matthias Christler

Galtür –Vor wenigen Tagen ist eine „Lahna“ wieder abgegangen, vom gleichen Berg wie damals. Zwischen dem aufgetürmten Schnee am Hang und dem Schutzwall am Ortsrand ziehen Langläufer mit ihren Ski durch die weißen Spuren. Weder der Lawinenkegel auf der einen noch die mächtige Steinmauer auf der anderen Seite stören das Vergnügen. Es ist ein normaler Urlaubstag in Galtür. Toni Mattle, Bürgermeister heute und 1999, redet entspannt über die aktuelle Situation: Man habe zum Beispiel bei der Lawine ganz genau gewusst, „dass sie nie den Talboden erreichen wird“. Der Seelsorger der Gemeinde, Karl Gatt, sagt dazu: „Wir Einheimische fürchten uns nicht. Das spüren die Gäste und deshalb bleiben sie da.“ Und der junge Skischullehrer Daniel Salner ist sich sicher: „Wir Galtürer leben in einem sicheren Alpendorf.“

20 Jahre nach der Lawinenkatastrophe am 23. Februar mit 31 Toten in Galtür und am 24. Februar mit sieben Toten in Valzur wird die Normalität, die eingekehrt ist, durch die nahenden Jahrestage durcheinandergebracht. Viele Betroffene wollen nicht mehr über 1999 reden. Jene, die es tun, erzählen Geschichten über die Momente nach dem dumpfen Knall und als alles dunkel wurde an diesem Schlechtwettertag um 16 Uhr in Galtür. „Als Seelsorger bin ich gleich von Haus zu Haus gegangen, in einem lag eine Mutter im Bett, ein Kind in jedem Arm. Sie war verzweifelt und wir redeten über den Glauben“, erinnert sich Karl Gatt. Er hatte erst wenige Monate zuvor sein Amt als Diakon angetreten. In den Stunden nach dem Unglück war er das erste Kriseninterventionsteam Tirols. Seitdem ist das Standard bei Unglücksfällen.

So wie Gatt leisteten viele Menschen Unvorstellbares – ein kleiner Auszug: Eine Frau wurde mit dem Lawinenhund ihres Mannes zur Lebensretterin. Fast 400 Bergrettungsmitglieder waren mehr als 10.000 Stunden im Einsatz. Das Bundesheer beförderte in 921 Flugstunden mehr als 18.000 Personen in Hubschraubern nach Galtür hinein oder heraus. „Uns wurde so viel geholfen, von Menschen vor Ort oder mit Spenden. Bei Valzur wurde ein Ortsteil neu aufgebaut, ohne bürokratische Hürden. Wegen all dem sind wir nicht verzweifelt“, sagt der Diakon.

Bürgermeister Toni Mattle steht unterhalb des Unglückshangs von 1999.
© Thomas Boehm / TT

In Valzur, knapp drei Kilometer von Galtür entfernt, führen neben der Straße Fußspuren im Schnee hinauf auf einen Hang. Dort stand bis zum 24.2.1999 einer der zwei Ortsteile. Ein Denkmal mit sieben Kreuzen erinnert an die Todesopfer.

Zurück in Galtür: Der Friedhof ist vom weißen Schnee fast vollständig eingehüllt. Nur bei einem Grabstein, eigentlich einem Denkmal, kann man die Inschrift („Zur Erinnerung an die Lawinenopfer“) und alle Namen lesen. Sechs Namen gehören zu Einheimischen, 25 zu Urlaubern, die damals gestorben sind.

Das Büro des Bürgermeisters liegt wenige Meter Luftlinie vom Friedhof entfernt. Mattle hebt von seinem Schreibtisch eine Grußkarte auf. Die sei von einem Gast, der Angehörige verloren hat. „Mit den Hinterbliebenen sind Bekanntschaften und Freundschaften entstanden. Weil wir auf sie zugegangen sind“, ist Mattle überzeugt. Die Schuldfrage hätten nämlich nicht die gestellt, die jemanden verloren haben. Das wären Anwälte gewesen. Es gab strafrechtliche Vorerhebungen gegen die Lawinenkommission. „Als die eingestellt wurden, war das ein Stück weit eine persönliche Befreiung“, sagt der Bürgermeister. Abgesehen von diesen Ermittlungen hat die Gemeinde einen Historiker beauftragt, der herausfinden sollte, ob es jemals schon so eine Lawine wie 1999 gab. „Der Historiker hat festgestellt, dass zumindest bis 1640 – so weit reichen die Aufzeichnungen – nie ein Mensch oder ein Gebäude im Ort durch eine Lawine zu Schaden gekommen ist.“

EIn Denkmal erinnert in Valzur an die Lawinenopfer.
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Die Lawine von 1999 war nicht vorherzusehen, heißt es von allen Seiten. Sollte das Unvorhersehbare jedoch wieder passieren, ist der Ort gerüstet – mit Schutzbauten am Berg und im Tal. Steinmauern stehen bei Häusern, um mögliche Lawinen aufzuhalten. Es sind die unübersehbaren Spuren, die das Ereignis von 1999 im Ort hinterlassen hat. Die größte Mauer bildet die Rückwand des Alpinariums. Das Museum wurde 2003 erbaut und soll das Erinnern erträglich machen. Drei schwarze Balken auf einem dreigeteilten Gemälde beschreibt Bürgermeister Mattle als „Tunnel“, der auf einer Seite offen ist. „Wir haben das Dunkle hinter uns gelassen. Wir sind wieder frei. Wir sind nicht mehr das Lawinendorf, sondern eine ganz normale vom Tourismus geprägt Tiroler Gemeinde.“

Das war in den ersten Jahren nach 1999 nicht so. Im Sommer kamen oft Busse voller Touristen, die sehen wollten, wo die Lawine abgegangen ist. Wohlwollende Gemüter unter den Galtürern sahen die Besucher als Menschen, die Betroffenheit zeigen wollten. Für andere waren es schlicht „Katastrophentouristen“. Vor allem aber litt der Ort in den ersten Jahren unter sinkenden Urlauberzahlen im Winter.

Die Galtürer sind trotzdem geblieben. Auch die Jungen, und das, obwohl viele betroffen waren, so wie der inzwischen 37-jährige Daniel Salner. Er arbeitete im Hotel des Vaters, als sie kam, die „Lahna“. Die Häuser in dem Ortsteil Winkl wurden am schlimmsten getroffen. Vor der Haustür des Galtürer Hofs stieg der junge Mann direkt auf den Lawinenkegel. „Die Tragweite des ganzen Unglücks ist mir erst später bewusst geworden. Aber ich habe das verarbeitet“, sagt er heute. Immer und immer wieder musste er über diesen Tag reden, teils nicht freiwillig, weil die Gäste jahrelang wissen wollten, was an diesem Tag passiert ist. „Vielleicht war das ein Heilmittel, das Reden, dass man es gar nicht verdrängen konnte“, überlegt Salner.

Wegzugehen sei für ihn jedoch nie in Frage gekommen. Er leitet jetzt seine eigene Skischule. Angst vor den Lawinen hat er weder im Ort noch bei der Arbeit im freien Gelände. Von dem Restaurant, in dem er sich nach einem Tag im Schnee kurz entspannt, blickt er durch das Fenster auf das tief verschneite Silvrettagebiet. „Ich glaube, die Menschen, die hier aufwachsen, haben einen siebten Sinn für die Lawinen. Ich weiß, dass damals ganz viele unglückliche Faktoren zusammengekommen sind. Doch mit den ganzen Bauten jetzt fühle ich mich absolut sicher.“ Mittlerweile frage nicht mehr jeder Gast nach, wo er als 17-Jähriger damals war und wo genau die Lawine herunter ist. „Das ist eine neue Generation an Gästen, die wissen das von 1999 oft gar nicht.“

Das ist vielen im Ort ganz recht. 20 Jahre nach einer der größten Lawinenkatastrophen der Alpen haben die Einwohner damit leben gelernt, es überwunden, versucht zu vergessen oder vielleicht auch verdrängt. Die große „Lahna“ hat Spuren hinterlassen.

Der Ort sieht anders aus heute. Und die Menschen hätten sich verändert, weiß Diakon Karl Gatt nach unzähligen Gesprächen in all den Jahren: „Die Lawine ist ein Teil von uns. Des ist halt so.“

Konsequenzen aus „Medienlawine“ gezogen

Galtür — Typisch, die Lawine musste ja kommen. Weil die Einheimischen alles abgeholzt haben. Oder: In Galtür hat die Rache der Natur zugeschlagen. Oder: Deutsche Anwältin prüft Klage gegen Galtür und Ischgl. — „Es waren teilweise bösartige Botschaften, die im Februar 1999 über Galtür verkündet wurden", resümierte der rastlose Taldoktor und Buchautor Walter Köck (1922—2011).

TV-Stationen aus Nah und Fern, darunter CNN, NBC und BBC, sowie Printmedien aus aller Welt waren mit rund 300 Journalisten spätestens ab 24. Februar 1999 vor Ort in Landeck und anschließend in Galtür. Die „Medienlawine", die im Zuge der „echten" Lawine über Galtür und Tirol hereinbrach, ist für die Einheimischen bis heute schwer nachvollziehbar. Auch für Bürgermeister Toni Mattle: „Die frei erfundenen Negativberichte über unser Dorf schmerzen." Im Umgang mit Medien habe er gelernt zu differenzieren. Dem Spruch von Ingeborg Bachmann, „die Wahrheit ist den Menschen zumutbar", stimme er jedenfalls zu.

Andererseits fertigte Mattle die Anfrage eines deutschen Mediums, was er denn zur Lawine in den Abruzzen mit den 29 Toten (2017) sage, mit „Kein Kommentar" ab.

„Gut, dass es Facebook, Twitter und WhatsApp 1999 noch nicht gegeben hat. Damit ist uns ein Medienchaos in unvorstellbarem Ausmaß erspart geblieben", ist der aus Galtür stammende Tirol-Chef der Wildbach- und Lawinenverbauung, Gebhart Walter, überzeugt.

Dass reale oder auch nur fiktive Naturgefahren mit dem Dorf in Verbindung gebracht werden, stört vor allem die Touristiker. Jüngstes Beispiel: Die Lawinenwarnstufe 5, die am 13.

14. Jänner ausgerufen wurde, sei „schon wieder" eng mit Galtür verknüpft worden. Laut Medienmonitoring ist der Name Galtür 200-mal in diversen Berichten vorgekommen. „Derartiges hat verheerende wirtschaftliche Auswirkungen. Im Jänner müssen wir ein Nächtigungsminus von 13 Prozent schlucken", zeigen die Vermieter auf.

Jedenfalls hat Galtür Konsequenzen aus der „Medienlawine 1999" gezogen. TVB und Gastgeber betreiben nur noch „offene und transparente" Kommunikation gegenüber den Gästen. Sicherheit habe „einen extrem hohen" Stellenwert. Straßensperren würden auch über Facebook kommuniziert.

„Wir werden noch lange um die Toten des Dorfes und um die Gäste trauern, die bei uns starben", schrieb Taldoktor Köck. „In Galtür ist nichts mehr, wie es war. Die Lawine hat uns alle gewandelt und fest zusammengeschweißt."

Am Samstag, 23. Jänner, ab 17 Uhr gestaltet Bischof Hermann Glettler den Erinnerungsgottesdienst in der Pfarrkirche Galtür. Im Mutterhaus der Barmherzigen Schwestern in Zams findet ab 16 Uhr ebenfalls ein Gedenkgottesdienst statt. (hwe)

25. Februar 1999: Black-Hawk-Hubschrauber evakuierten Tausende Urlauber aus dem Paznaun.
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Am 27. Februar 1999 durften Journalisten die Katastrophe erstmals „offiziell“ sehen.
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