Schüssel: „Barnier wäre idealer EU-Außenminister“
Der frühere ÖVP-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel spricht sich gegen das Modell der europaweiten Spitzenkandidaten zur EU-Wahl aus. Er verteidigt Viktor Orbán und sieht sich nicht als Berater von Kanzler Kurz.
Vor 25 Jahren wurden die Beitrittsverhandlungen zu einem Abschluss gebracht. Sie waren damals Wirtschaftsminister in der Regierung von SPÖ und ÖVP. Wann spürten Sie damals, dass es beim Referendum zu einem positiven Ergebnis kommen wird?
Wolfgang Schüssel: Dass es ein positives Ergebnis wird, war uns eigentlich allen immer klar. Es gab doch in Österreich immerzu einen Anteil von knapp 50 Prozent Befürwortern. Doch wir schafften das beste Ergebnis von allen damaligen Beitrittskandidaten. Wochen vor dem Referendum spürte ich eine wirkliche Aufbruchstimmung im Lande. Da war mit dann klar, dass wir auch ein tolles Ergebnis erreichen können.
In den Beitrittsverhandlungen konzentrierte sich zum Schluss vieles auf den Transit.
Schüssel: Der Transit war ein Thema, aber nicht nur. Ein sehr hart umkämpftes Kapitel war jenes des Grundverkehrs und vor allem jenes der Landwirtschaft. Die Bauernvertreter hatten bei den Verhandlungen oft Tränen in den Augen. Letzten Endes konnten wir aber in den langen Nächten von Brüssel für die Bauern ein gutes Ergebnis erzielen, welches bis heute Bestand hat.
Zur Person
Wolfgang Schüssel (73) gehörte seit 1989 als Wirtschafts- und später als Außenminister einer Großen Koalition unter der SPÖ-Kanzlerschaft von Franz Vranitzky und Viktor Klima an. Von 1995 bis 2007 war er ÖVP-Obmann. Mithilfe der FPÖ wurde er zwischen 2000 und 2007 Bundeskanzler.
Seine schwarz-blaue Koalition galt innerhalb der EU als Tabubruch. Nach der Wahlniederlage 2006 war er noch bis 2008 Klubobmann. Seine Amtszeit war unter anderem durch die Buwog- und Eurofighter-Affäre überschattet.
Schüssel ist Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik, er sitzt u. a. im Aufsichtsrat des deutschen Energiekonzerns RWE und des russischen Telekommunikationskonzerns MTS.
In den vergangenen 25 Jahren haben sich dramatische Veränderungen vollzogen. Wie sehen Sie heute die Verfasstheit Europas?
Schüssel: Österreich ist damals der EG beigetreten. Die heutige Europäische Union ist mit der EG von damals nicht mehr vergleichbar. Wir sind damals einer Gemeinschaft mit 12 Mitgliedern beigetreten, heute sind wir noch 28. Den Euro gab es damals noch nicht. In die neuen Mitgliedsländer wurden in den vergangenen Jahren 400 Milliarden Euro für die Wohlstandssteigerung investiert. Das ist, umgerechnet auf die heutige Kaufkraft, viermal das Volumen der Marshallplans. Die EU ist kein Paradies, aber sie wurde für Österreich zu einer großartigen Erfolgsgeschichte. Ich möchte dies kurz dokumentieren: 1994 hatten wir in Österreich drei Millionen Jobs für Unselbstständige, heute sind es 3,7 Millionen Arbeitsplätze. 1994 exportierte Österreich Waren im Umfang von 37 Milliarden Euro, heute sind es 150 Milliarden Euro. Diese Erfolgsdaten, das sollte man hinzufügen, wären ohne die Ostöffnung nicht erklärbar.
Trotz dieser von Ihnen so bezeichneten Erfolgsgeschichte ist Europa derzeit massiv unter Druck. Von außen ebenso wie von innen.
Schüssel: War es je anders? Ich will die aktuellen Herausforderungen nicht kleinreden. Vielleicht fehlt uns heute die Empathie für die Probleme anderer Mitgliedsländer.
Sprechen Sie damit die Flüchtlingsdebatte an, die Europa seit 2015 beherrscht?
Schüssel: Ja, aber das ist für Europa kein neues Phänomen. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs waren zehn Millionen Menschen innerhalb Europas auf der Flucht. Allein 1,5 Millionen Menschen kamen damals nach Österreich. Denken Sie an die Ungarn-Krise, an Prag 1968, an die Balkan-Kriege. Ich will sagen: Die Erfahrung mit Flüchtlingen wirkt in vielen Köpfen so dramatisch, weil wir sie schon länger nicht mehr erlebt haben. Ohne Zweifel – es braucht sicher einen besseren Schutz der Außengrenzen und ein anderes Asylverfahren.
Es geht doch auch um eine gelebte Solidarität in Europa. Einige Mitgliedsländer weigern sich strikt, Flüchtlinge aufzunehmen.
Schüssel: Einige Länder wollen sich nicht von Brüssel aus eine Quote vorschreiben lassen – und das verstehe ich.
Sie haben in der Vergangenheit die Politik von Viktor Orbán immer wieder verteidigt. Hat sich an Ihrer Haltung etwas geändert?
Schüssel: Ich verteidige Orbán nicht in jeder Frage. Ich finde seine Angriffe gegen George Soros absurd. Aber Orbán hat nach dem sozialdemokratischen Desaster Ungarn gerettet. Aber ich versteh’ schon: Wenn man dreimal hintereinander Wahlen klar gewinnt, steigt das Unbehagen. Orbán geht auch nicht immer zimperlich mit seiner Macht um, aber sie ist demokratisch legitimiert. Ich halte daher nichts davon, Orbáns Partei Fidesz aus der EVP auszuschließen, weil man sie sonst in die rechtsnationale Fraktion treibt. Konflikte müssen daher innerhalb der Fraktion bewältigt werden. Dasselbe gilt übrigens auch für die SPE und die PSD in Rumänien.
Und was sagen Sie zu der von Orbán propagierten illiberalen Demokratie?
Schüssel: Ich kann mit diesem Begriff wenig anfangen. Die Demokratie muss immer liberal im Sinne der Freiheit des Bürgers sein.
Im Mai wird das Europaparlament neu gewählt. Es wird mit Erfolgen der nationalen und rechtspopulistischen Kräfte gerechnet.
Schüssel: Es wird Zugewinne geben, aber diese Europaskeptiker sind ja nicht homogen in ihrem Auftreten. Zudem wird es im Europaparlament mit der EVP, den Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen eine überwältigende Mehrheit von proeuropäischen Kräften geben. In der Demokratie darf man sich nicht fürchten. Aber man muss mit dem Aufstieg der Rechten umgehen lernen. Ich wünsche mir wieder mehr Politiker in Europa, die für ihre Idee kämpfen. Dann braucht uns nicht bange sein.
Kämpft die österreichische Bundesregierung für Europa?
Schüssel: Ich finde, der EU-Vorsitz wurde sehr gut gemacht.
Österreich ist wohl aus anderen Gründen wie Ungarn Teil der EU geworden. Bei den Briten oder Schweden spielten wiederum andere Überlegungen für den Beitritt eine Rolle. Zahlt die EU jetzt die Zeche für die divergierenden Kräfte in der Union, weil die Frage der Finalität immerzu ausgeklammert wurde?
Schüssel: Schauen Sie doch nur auf die Krise des transatlantischen Bündnisses. Wenn wir die EU noch nicht hätten, müssten wir sie jetzt wieder so gründen. Für mich sind die „Vereinigten Staaten von Europa“ oder die „Republik Europa“ sympathische, aber nicht erreichbare Träume. So wie Österreich ohne die Bundesländer nicht vorstellbar ist, so ist Europa nicht ohne seine Nationalstaaten vorstellbar. Wer das in Frage stellt, wird scheitern. Die Idee von Europa ist eine „work in progress“: Nur so kann ein organisches Zusammenwachsen erreicht werden. Was aber Europa benötigt, ist eine starke Außenpolitik. Nach Brüssel gehören zudem die besten Leute – und nicht die Personen der zweiten und dritten Kategorie.
Nach den Europawahlen werden die Schlüsselpositionen in der EU personell neu aufgestellt. Haben Sie hier Vorschläge?
Schüssel: Ich halte ja die Idee des europäischen Spitzenkandidaten bei der EU-Wahl für grundfalsch. Am Ende geht es nicht um die Position des Kommissionspräsidenten, sondern um ein echtes Personalpaket. Europa braucht nach der EU-Wahl einen neuen Ratspräsidenten, einen Außenminister, einen Parlamentspräsidenten, einen Wirtschaftskommissar, einen Kommissar für Außenhandel, einen EZB-Chef. Und für diese Positionen braucht es sehr gute Leute. Manfred Weber gehört sicher dazu. Aber ich schätze auch den früheren finnischen Premier Alexander Stubb oder den niederländischen Ministerpräsident Mark Rutte. Große Stücke halte ich auf den Brexit-Chefunterhändler der EU, Michel Barnier. Für mich wäre Barnier der ideale EU-Außenminister.
Wie beurteilen Sie prinzipiell die Europapolitik der Bundesregierung?
Schüssel: Ich bin zwar kein großer Freund des Bildes vom Brückenbauer, weil es auf den Brücken zumeist stürmisch zur Sache gehen kann. Aber die Politik des Zusammenführens gelingt der Regierung immer wieder.
Ihnen wird immer wieder nachgesagt, Berater von Sebastian Kurz zu sein. Stimmt das so?
Schüssel: Ich kenne den Bundeskanzler schon aus seiner Zeit bei der JVP. Ich habe seinen Aufstieg verfolgt. Nein, ich bin nicht sein Berater. Es kommt gelegentlich zu Kontakten, zu einem Diskussionsaustausch. Wenn er will, stehe ich gerne zu einem Meinungsaustausch zur Verfügung. Ich dränge mich aber nicht auf. Ansonsten will ich die Innenpolitik nicht kommentieren.
Ein Versuch noch: Wie viel Türkis ist bei Ihnen bereits vorhanden?
Schüssel: In meiner politischen Ära waren meine Farben immer Rot-Weiß-Rot. Mir geht es immer um die Ideen, um die politischen Werte, nicht um eine Farbe: Christlich, liberal, konservativ und europäisch – das sind die vier inhaltlichen Säulen der ÖVP. Daran hat sich auch unter Kurz nichts geändert.
Das Gespräch führten Mario Zenhäusern und Michael Sprenger