„Demenz-Stammtisch“: Anker für Angehörige in der Weite des Vergessens
Pflegende Angehörige nutzen den „Demenz-Stammtisch“ in Reutte seit Jahren als Kraftquelle. In Sachen Bewusstseinsbildung ist noch viel zu tun.
Von Simone Tschol
Reutte –In Österreich leben derzeit geschätzt 130.000 Personen mit Demenz, in Tirol über 11.000. Entsprechend der unterschiedlichen Altersverteilung in den Bezirken ist auch die Zahl der Betroffenen verschieden. Laut Statistik der Demenz Tirol sind im Außerfern mehr als 500 Personen betroffen, im Bezirk Landeck knapp 650 und im Bezirk Imst sogar über 750.
Meist werden die Betroffenen von Angehörigen zuhause betreut. Die Gefahr, dass diese dabei die Grenzen ihrer Belastbarkeit weit überschreiten, ist groß. Denn die Veränderungen, die eine Demenz auslöst, greifen in alle Lebensbereiche ein. Geistig-seelische Überforderung, körperliche Erkrankungen und soziale Einschränkungen sind die Folge. Und die damit einhergehende Isolation schafft neue Probleme. Ein Austausch mit anderen Betroffenen ist fast unmöglich.
Aus dieser Not heraus wurde in Reutte vor knapp fünf Jahren auf Initiative der damaligen Vizebürgermeisterin Elisabeth Schuster und von Alois Gratl, Pflegedienstleiter im Wohn- und Pflegeheim Haus Ehrenberg, der „Demenz-Stammtisch“ ins Leben gerufen. Jeden dritten Montag im Monat treffen sich Angehörige um 18 Uhr im Seminarraum des Hotel Mohren im Untermarkt zum Erfahrungsaustausch. Im April findet bereits der 50. Stammtisch statt. „Diese Treffen sind eine Kraftquelle für die Betroffenen. Sie merken, dass sie nicht allein sind, dass sie alle die gleichen Probleme und Sorgen haben“, beschreibt Schuster die Gespräche. Gratl fügt hinzu: „Und manchmal bemerken sie auch, dass das Gegenüber noch viel größere Sorgen hat.“
Die Besucherzahlen unterscheiden sich stark. Mal seien es nur sechs Personen, mal sogar schon 19 gewesen, so Schuster. Neben dem reinen Erfahrungsaustausch werden auch immer wieder Fachleute organisiert, die in kurzen Vorträgen Hilfestellung geben, sei es ein Notar, ein Vertreter des Sozialsprengels oder der Volkshilfe. 78 pflegende Angehörige wurden bislang beim Stammtisch gezählt. Schuster: „Hier können sie die Stimme erheben und ihr Herz ausschütten. Sie nutzen die eineinhalb Stunden Auszeit für sich und gehen ermutigt und mit viel Zuversicht nach Hause. Und damit hat sich der Abend schon gelohnt.“
Experten gehen davon aus, dass sich die Zahl der Demenzkranken bis 2050 verdoppeln wird. „Ein Grund dafür ist sicher, dass die Menschen immer älter werden“, meint Gratl, der die Idee einer „demenzfreundlichen Gemeinde“ – auch wenn es schwierig ist – noch nicht aufgegeben hat. „Man könnte zum Beispiel einen Schwerpunktmonat machen. Im Zillertal gibt es so was bereits. Dafür müssten alle Bereiche, auch Angestellte im Handel und bei Geldinstituten, für das Thema sensibilisiert und für den Umgang mit Demenzkranken geschult werden. Man könnte mit dem Thema auch an Schulen gehen und die Jugend darüber informieren.“ Auf alle Fälle müsse die Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung vorangetrieben werden, denn die soziale Isolation sei kontraproduktiv – sowohl für die Demenzkranken als auch ihre Angehörigen. Gratl: „Es sollte normal werden, dass Menschen mit ihren dementen Angehörigen raus, in ein Restaurant essen gehen oder an Veranstaltungen teilnehmen können. Dafür muss sich auch die Gesellschaft anpassen und den Umgang mit Demenzerkrankten lernen.“ Gratl ist jedoch optimistisch. „Ich denke an die Lebenshilfe. Wenn die heute Ausflüge machen oder an Veranstaltungen teilnehmen, ist das normal. Früher war es das auch nicht.“
„Und darüber hinaus“, sind sich Schuster und Gratl einig, „können Gesunde von Dementen auch was lernen – zum Beispiel die Entschleunigung.“