Studie: Koalitionsregierungen in Osteuropa wechselfreudiger
Wien (APA) - Koalitionsregierungen in Osteuropa ticken mitunter etwas anders als in westlicheren EU-Staaten. So gibt es dort etwa eine größe...
Wien (APA) - Koalitionsregierungen in Osteuropa ticken mitunter etwas anders als in westlicheren EU-Staaten. So gibt es dort etwa eine größere Tendenz zum fliegenden Koalitionspartnertausch und eine größere Scheu vor Neuwahlen. Wie ein Forschungsteam unter Wiener Leitung in mehreren Untersuchungen zeigte, bestimmt in Osteuropa das Tun einzelner Minister viel stärker die Politik als etwa Koalitionspakte.
Die internationalen Forscher um Projektleiter Wolfgang C. Müller, Vorstand des Instituts für Staatswissenschaft der Universität Wien, haben sich im Rahmen des vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt erstmals auf die Zusammenarbeit von Koalitionsregierungen in jenen EU-Staaten konzentriert, die zwischen 2005 und 2007 beigetreten sind. Bisher habe sich die Forschung stärker auf den Beginn und das Ende solcher Kooperationen in den Visegrad-Staaten, den baltischen Ländern, in Slowenien, Bulgarien und Rumänien konzentriert.
Die Szenen dieser politischen Ehen haben Müller und seine Kollegen Torbjörn Bergman und Gabriella Ilonszki in Zusammenarbeit mit Experten aus den zehn untersuchten Ländern mittels Interviews mit früheren Kabinettsmitgliedern sowie anhand von Koalitionsverträgen, Arbeitsabkommen und Analysen der jeweiligen Medienberichterstattung nachverfolgt. Insgesamt zeige sich, dass die Anzahl der Regierungen jene der Wahlen „um ein vielfaches übertrifft“, sagte Müller im Gespräch mit der APA.
Pro Wahl - berücksichtigt wurden alle freien Urnengänge zwischen 1990 und Juni 2014 - ergaben sich im Schnitt über alle untersuchten Länder hinweg 2,3 Regierungen, die im Durchschnitt etwas länger als 500 Tage hielten. Fliegende Wechsel von Koalitionspartnern sind vielerorts also relativ gängig, auch wenn es zwischen den Staaten mitunter große Unterschiede gibt. Neuwahlen werden tendenziell vermieden, da Regierungsparteien mitunter berechtigte Befürchtungen hegen, dafür von Wähler hart abgestraft zu werden.
Der EU-Beitritt der Länder hat laut Müller nicht zu mehr Stabilität geführt. Waren die 1990er-Jahre durch den oft schwierigen Aufbau neuer politischer Systeme und die nicht minder herausfordernde Vorbereitung auf die EU-Mitgliedschaft geprägt, wurde es auch danach nicht unbedingt ruhiger. Denn die Wirtschaftskrise ab 2008 „geht in vielen dieser Länder Hand in Hand mit einer politischen Krise“ und einer Vertiefung des Misstrauens gegenüber der Politik, sagte der Politikwissenschafter.
Im Rahmen der Untersuchungen kam auch heraus, dass in vielen Ländern starke persönliche Rivalitäten zwischen einzelnen Politikern die Diskussionen geprägt haben. Müller: „Im Westen ist das doch ein Stück weiter professionalisiert.“
Während in westeuropäischen Ländern Koalitionsabkommen vielfach als verbindlicher kleinster gemeinsamer politischer Nenner einen relativ hohen Stellenwert haben und Regierungsarbeit weitgehend abgestimmt erscheint, ist die Triebfeder hinter der Politik in den zehn untersuchten östlichen Ländern vielfach eine andere: Die Wissenschafter sammelten viele Hinweise darauf, dass sich Koalitionsparteien dort die Ressorts aufteilen und die Minister dann mehr oder weniger freie Hand haben, die Politik zu gestalten. Damit verlieren etwaige Abkommen ihren Verpflichtungscharakter. „In Westeuropa hat kaum jemand geglaubt, dass dieses theoretische Modell wirklich empirische Relevanz hat“, so Müller, der in Kooperation mit Bergman und Ilonszki die Forschungsergebnisse in dem Buch mit dem Titel „Coalition Governance in Central Eastern Europe“ zusammenfasst, das Anfang 2020 herauskommen soll.
(S E R V I C E - Weitere Informationen zu dem Forschungsprojekten und Daten im Internet unter https://viecer.univie.ac.at/ und https://erdda.org)