Im Transitraum Berlin: „Der traurige Gast“ von Matthias Nawrat

Berlin (APA/dpa) - Ein Mann flaniert durch Berlin. Wir wissen nicht viel von diesem Mann. Er ist um die 40 und von Beruf Schriftsteller. Sei...

Berlin (APA/dpa) - Ein Mann flaniert durch Berlin. Wir wissen nicht viel von diesem Mann. Er ist um die 40 und von Beruf Schriftsteller. Seine Wurzeln liegen in Schlesien. Das alles verbindet ihn mit dem Autor Matthias Nawrat (Jahrgang 1979). Ansonsten bleibt der namenlose Protagonist des für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Romans „Der traurige Gast“ schattenhaft.

Dieser „traurige Gast“, der im Vorübergehen Impressionen und Lebensgeschichten einsammelt, ist ein stiller Beobachter und gewissenhafter Zuhörer, dem sich Fremde auf geheimnisvolle Art öffnen, um von ihren Träumen, aber auch von den Brüchen und Katastrophen in ihrem Leben zu erzählen. All diesen Menschen ist gemeinsam, dass sie Zugezogene, Entwurzelte, Heimatlose sind, für die Berlin eine Art Transitraum darstellt. Sie sind geprägt und gefangen von ihrer Vergangenheit und ihrer Geschichte, die sie mit sich herumtragen und der sie nicht entkommen können.

Da ist zum Beispiel die Architektin Dorota, die wie der Flaneur aus dem polnischen Opole stammt. Ihre Familie wurde einst aus der Ukraine nach Schlesien umgesiedelt, ihr Großvater von den Deutschen erschossen. Diese Vergangenheit, die Geschichte von Krieg und Völkermord treibt sie um. Geradezu in Umkehr zur Migrationsgeschichte ihrer Familie lebt Dorota abgekapselt in ihrer Wohnung in Schöneberg, ihren Kiez verlässt sie nie. Der Gast wird so zu ihrem Lautsprecher zur Welt.

Eine andere Zufallsbekanntschaft ist Dariusz, den der Schriftsteller bei seinem Nebenjob an einer Tankstelle kennenlernt. Auch er stammt aus Polen und ist eigentlich gelernter Chirurg. In langen Gesprächen schildert er, wie er im Laufe der Zeit immer weiter abglitt: die Ehe mit einer Frau, die er nicht liebte, ein Sohn, der sich davonmachte und dessen Spur er verzweifelt bis nach Bolivien verfolgte, kurzum ein Leben, das zu guter Letzt an der Tankstelle und im Suff endete.

Wie flüchtig hingemalte Tupfer im Gesamtbild dieses Romans tauchen noch andere Figuren auf, so ein früherer Kommilitone des Schriftstellers, ein Kosmopolit, der jetzt als Molekularbiologe an der Charité forscht, oder der Schauspieler Eli, der aus Rumänien stammt und schon „an jedem Theater in Europa“ spielte. Auch sie sind Männer im Transit, auf der Durchreise, haben sich aber so wie Eli mit diesem Schicksal arrangiert: „Du bist, was du bist, weil du kommst, woher du kommst. Und irgendwann muss es dir egal sein, du musst irgendwann lernen, darauf zu scheißen.“

Nur an wenigen Stellen tritt der Erzähler deutlicher als Person hervor, so als er vom Attentat am Berliner Breitscheidplatz erfährt. Aus dem still reflektierenden Beobachten wird nun ein misstrauisches Beäugen der Passanten, ein ängstliches Wittern, ja sogar ein düsteres Fantasieren von einer möglichen Explosion und einer unumkehrbaren Situation. „Der traurige Gast“ hat keinen Plot, er verzichtet bewusst auf eine schlüssig erzählte Geschichte zugunsten einer willkürlichen Aneinanderreihung von Bildern und Episoden. Es ist ein Streunern ganz im Stil jenes Flaneurs, der hier den Takt angibt. Insofern gleicht dieser Roman der vagabundierenden menschlichen Existenz, die er immer wieder in den verschiedenen Episoden hinterfragt.

(S E R V I C E - Matthias Nawrat: „Der traurige Gast“, Rowohlt Verlag, 304 Seiten, 22,70 Euro)