Niederlande

Stille in der Tram: Der Tag nach den Schüssen von Utrecht

Am Tag nach den tödlichen Schüssen ist es in der Straßenbahn ungewöhnlich still.
© AFP

Nach den tödlichen Schüssen versuchen die Utrechter Bürger, in den Alltag zurückzufinden. Mancherorts ist es auffallend still. Aber in Den Haag gibt es auch Politiker, die jetzt besonders laut tönen.

Von Annette Birschel, dpa

Utrecht – Die schnelle gelbe Straßenbahn fährt wieder. Nummer 60 vom Hauptbahnhof Utrecht, Richtung Nieuwegein. Die Bahn ist voll, aber es ist still. Ungewöhnlich still. Die meisten Passagiere schauen an diesem Dienstag noch nicht einmal auf ihre Handys, als ob das an so einem Ort unpassend wäre. Sie blicken um sich oder schauen aus dem Fenster.

„24oktoberplein Zuid“ wird die Haltestelle angekündigt. In einer Bahn wie dieser hat am Montag der Täter – verdächtig ist der 37-jährige Gökmen T. – plötzlich das Feuer eröffnet. Warum? Die Polizei hat mittlerweile Hinweise auf einen terroristischen Hintergrund, schließt aber auch weiter andere Motive nicht aus.

„Das kann überall passieren“

„Nein“, sagt ein junger Mann in der Straßenbahn, „ich hab nicht mehr Angst als vorher. Das kann überall passieren, auch in Utrecht.“ Neben ihm sitzt eine junge Frau, Hanneke. „Mit einem mulmigen Gefühl“ sei sie eingestiegen. „Aber ich muss doch zur Arbeit, und ich brauche die Bahn.“

Gelb, rot, weiß und lila sind die Blumen in dem wunderschönen Tulpenstrauß, den eine junge Frau in der Hand hält. „Den hab ich gestern zu meinem ersten Arbeitstag bekommen“, sagt sie. Dann geht sie zu einem großen Baum, zieht ein paar Tulpen heraus und legt sie dort nieder. „Ein kleines Zeichen für die Opfer“, sagt sie.

Es ist der Platz des 24. Oktober, einen Tag nach den tödlichen Schüssen. Drei Menschen starben, drei andere wurden lebensgefährlich verletzt. Die Toten sind ein 49 Jahre alter Vater und Fußballtrainer, ein 28-jähriger Mann aus Utrecht und eine 19-jährige Frau, sie arbeitete in einer Snackbar. Die Flaggen an öffentlichen Gebäuden hängen auf halbmast.

„In meinem Kopf geht das immer rund“ sagt die 13-jährige Raniem. „So was kennt man nur aus dem Ausland, doch nicht bei uns.“ Sie ist mit ihren Freundinnen zu dem Platz gekommen, um Blumen nieder zu legen.

Premier Rutte und Justizminister Grapperhaus legen Blumen nieder.
© ANP

Am Tag danach scheint an diesem Verkehrsknotenpunkt dennoch fast alles wie immer zu sein. Die Autos rasen über die mehrspurigen Straßen. Menschen betreten die Bürogebäude. Fahrräder und Mopeds fahren auf breiten roten Asphaltwegen.

Vor der türkischen Eyüb Sultan Moschee stehen Männer, rauchen und trinken Tee. Ganz in der Nähe war das rote Fluchtauto gefunden worden und darin ein Schreiben. Dieser Brief deute auf ein Terrormotiv hin, teilt die Polizei mit. Die Männer vor der Moschee glauben das nicht. In der Moschee hatten sie den Verdächtigen nie gesehen. „Das war kein Terrorist“, sagt einer von ihnen. „Ich kenne den, das ist ein Psychopath, drogensüchtig, ein Krimineller.“ Der türkische Mann hat gleich gegenüber, im kleinen Einkaufszentrum beim Blumengeschäft „Rozeneiland“ ein paar Rosen gekauft. Die will er am Baum hinlegen. „Aus Respekt.“

Laute Worte in Den Haag

Während es in Utrecht an diesem Dienstag mancherorts auffallend still ist, sind im Parlament in Den Haag auch laute Worte zu hören – schließlich werden am Mittwoch die Provinzparlamente gewählt. Rechtspopulist Geert Wilders ereifert sich: über die Abgeordneten, die seiner Meinung nach viel länger über die Schüsse in Utrecht debattieren sollten. Über Justizminister Ferdinand Grapperhaus, der sich „kaputtschämen“ und zurücktreten sollte. Denn der mutmaßliche Täter, „dieser islamistische Terrorist“, hätte niemals frei herumlaufen dürfen, schimpft Wilders, und dafür sei der „lasche Minister“ verantwortlich.

Der rechtskonservative Abgeordnete Thierry Baudet schlägt in dieselbe Kerbe: Wie der Minister den Erfolg der Einwanderungspolitik der vergangenen Jahre beurteile, will er wissen. Noch am Montagabend hatte Baudet eine Wende in der Asylpolitik gefordert, obwohl der Wahlkampf für die Provinzwahlen am Mittwoch da eigentlich unterbrochen war. Aus den anderen Parteien bekommt er dafür herbe Kritik. „Wir haben in den Niederlanden eine Gesellschaft, in der wir auf Toleranz wert legen“, mahnt Grapperhaus.

„Das Leben muss auch weitergehen“

Zurück in Utrecht. Auch Ministerpräsident Mark Rutte und Justizminister Grapperhaus kommen am späten Nachmittag zum Tatort und legen bei dem Baum Blumen nieder. Dort ist mittlerweile ein Blumenmeer entstanden, manche Menschen haben Kerzen aufgestellt, Kinder Zeichnungen aufgehängt.

Am Platz des 24. Oktober arbeiten auch zwei Bauarbeiter in orange-farbenen Sicherheitswesten. Eine Reklamesäule muss ans Stromnetz angeschlossen werden. „Für die Opfer und die Familien ist es schrecklich“, sagt einer von ihnen. „Aber das Leben muss auch weitergehen, leider.“