“Der Boden unter den Füßen“: Vom Straucheln und Strampeln
Großes Schauspielkino: Marie Kreutzers „Der Boden unter den Füßen“ eröffnete am Dienstag die Diagonale. Nun kommt das Drama österreichweit in die Kinos.
Von Marian Wilhelm
Graz –Das „Hochamt des Österreichischen Films“ hat Dienstagabend in Graz begonnen. Zur Eröffnung der diesjährigen Diagonale gab es ein interessantes Doppelspiel zweier herausragender Schauspielerinnen. Birgit Minichmayr erhielt den Großen Schauspielpreis – die TT berichtete – samt überschwänglicher Laudatio und einem Kunstwerk namens „Golden Balls“ von Ashley Hans Scheirl. Sie bedankte sich mit einer launigen Rede gegen rote Teppiche und für die Utopie der Kunst: „Kunst kann Wasser zu Wein verwandeln! Ich möchte die Herzen der Menschen rühren!“
Auf der Leinwand war dann im Eröffnungsfilm „Der Boden unter den Füßen“ eine andere faszinierende Schauspielerin zu sehen, die am Beginn ihrer großen Karriere steht (mit Terrence Malick drehte sie bereits). In Graz zum Festivalauftakt nur per Videobotschaft vertreten, brilliert Valerie Pachner im Eröffnungsfilm von Marie Kreutzer als kühle Unternehmensberaterin, die mit ihrer psychisch labilen Schwester konfrontiert wird. Dadurch gerät ihr durchorganisiertes Workaholic-Leben aus der Bahn. Dieser typisch österreichische Drama-Stoff entfaltet in seiner Hauptfigur Lola eine ungeahnte szenische Kraft. Wie labil ihre Lola geworden ist, zeigt Pachner in einer Straßenszene in der Mitte des Films: Am Weg zu einem Business-Dinner von einem Punk um 50 Cent gefragt, bricht die Unsicherheit wütend aus ihr heraus. Die Beschimpfung ihres Gegenübers ist zugleich eine Art Stimme in ihrem Kopf: „Du verkaufst deine Seele für deine Kohle. Alle anderen sind dir doch scheißegal.“ Sie erwidert gleichsam zu sich selbst: „Du kennst mich doch gar nicht.“
Ein Vergnügungspark liegt direkt neben der Firma, die Lola mit ihrer Chefin Elise „umstrukturieren“ soll. Doch Spaß hat Lola maximal im Bett mit Elise. Die beiden verbindet eine private Beziehung, die auf ungesunde Weise von beruflichem Ehrgeiz im Unternehmensberatungs-Geschäft geprägt ist. Elise, fast durchwegs eiskalt gespielt von Mavie Hörbiger, pusht Lola in einer rundherum von Männern dominierten Wirtschaftswelt. Die ältere Schwester Conny (Pia Hierzegger) zu Hause in Wien ist da ein Erfolgs-Störfaktor. Als sie zu Beginn des Films nach einem Suizidversuch in die Psychiatrie eingeliefert wird, fliegt Lola zwischen zwei Terminen schnell zu ihr und kann doch nichts mit der Schwäche der großen Schwester anfangen, deren Vormund sie ist. Conny ruft Lola in ihrer paranoiden Schizophrenie immer wieder aus der geschlossenen Abteilung an. Doch auf Nachfrage dort heißt es, sie habe gar nicht telefoniert.
Hier macht der Film ganz bewusst eine Tür zum Psychothriller auf, die er jedoch bald wieder schließt, um zum österreichischen Drama zurückzukehren. Falscher Genre-Alarm: Wahrscheinlich war es doch nur das Burn-out nach einer der 48-Stunden-Schichten im Endspurt einer Firmensanierung. Lola kommt ins Straucheln und versucht sich im Fitnesscenter wieder zurück auf festen Boden zu strampeln.
Die Geschichte von Marie Kreutzer, die auch Vorstandsmitglied im Drehbuchverband und Drehbuchforum Austria ist, leidet streckenweise unter Unentschlossenheit und einigen unmotiviert in der Luft hängenden Szenen. Dass Pachners stechend blaue Augen für den Film mit dunklen Linsen entschärft wurden, passt ins düstere Bild. Zwischen kapitalismuskritischer Milieu-Studie und psychiatrischem Drama hält Valerie Pachner den Film mit ihrem fesselnden, immer glaubhaften Spiel grandios zusammen. Ein Schauspielfilm zum Diagonale-Auftakt.
Das Grazer Publikum hat noch bis Sonntag Zeit, in die großteils düstere österreichische Film-Seele einzutauchen. Gestern etwa präsentierte auch Exil-Tiroler Caspar Pfaundler sein jüngstes Werk „Die Melancholie der Millionäre“ in Graz.