21 gedopte Sportler fliegen in den nächsten Wochen auf
Trotz der Beichte von Johannes Dürr fühlte sich Dopingarzt Mark S. sicher. Deshalb war die „Operation Aderlass“ bei der WM in Seefeld erfolgreich.
Von Peter Nindler
München — Wenn der Münchner Oberstaatsanwalt Kai Gräber über die „Operation Aderlass", eine der größten Anti-Doping-Razzien in der Vergangenheit mit Schwerpunkt Nordische Ski-WM in Seefeld und Erfurt spricht, so erzählt er eigentlich eine tragische Geschichte: von Athleten, die teilweise als Versuchskaninchen des Erfurter Arztes Mark S. herhalten mussten. Einem, so schildert Gräber, wurde eine Art Hämoglobin-Pulver verabreicht, bei dem niemand wusste, wie es tatsächlich wirkt. „Als Nebenwirkungen einsetzten, wurde die Behandlung abgesetzt."
Nach einer Eigenblutdoping-Refundierung musste ein Sportler sogar beide Arme in den Schnee stecken, weil ihm plötzlich Hitzewallungen zugesetzt hatten. Gehetzt zwischen den Rennen ließen sich die Wettkämpfer von Laien ohne medizinische Ausbildung das Blut abnehmen und wieder zuführen. In den Waschbecken der Hotelzimmer wurden die gefrorenen Blutbeutel aufgetaut, in alles andere als sterilen Zimmern das Doping dann durchgeführt. 4000 bis 12.000 Euro pro Saison verlangte Mark S,. der seit 2011 jährlich rund 100.000 Euro mit seinem Dopingnetzwerk verdient hat. Aber: „Es war für die Gesundheit der Athleten auch sehr gefährlich", so Gräber.
Sechs Festnahmen bei WM in Seefeld
Sechs Sportler, darunter die österreichischen WM-Teilnehmer Max Hauke und Dominik Baldauf, der Tiroler Radfahrer Stefan Denifl sowie zwei estnische und ein kasachischer Langläufer wurden bei der WM in Seefeld festgenommen. Georg Preidler machte eine Selbstanzeige, beim Dopingarzt Mark S. und vier seiner Helfer — beim letzten am Montag — klickten in Deutschland die Handschellen.
Trotz der detailreichen Doping-Beichte von Ex-Langläufer Johannes Dürr in der ARD, in der er die Praktiken von Mark S. geschildert hatte, fühlte sich der Arzt sicher. Nach Ausstrahlung der Fernseh-Dokumentation wurden am 17. Jänner Ermittlungen samt Telefonüberwachung gestartet. „In einem Telefonat besprachen der Mediziner und ein Helfer die Situation. Weil keine Namen genannt wurden, machten sie weiter. Außerdem hat Mark S. gemeint, er habe Unterlagen ohnehin geschreddert", wundert sich Staatsanwalt Gräber über so viel Leichtfertigkeit.
Drahtzieher vernommen
Dienstag vernahm Gräber mit seinen Kollegen aus Innsbruck den Drahtzieher der Dopingaffäre. Für ihn sind „noch längst nicht alle Kapitel geschrieben". Nach vorläufiger Auswertung der sichergestellten Blutbeutel und Aktennotizen sind 21 Aktive ins Visier der Staatsanwaltschaften München und Innsbruck geraten. Darunter die bereits bekannten Namen. Auch gegen einzelne Sportlerinnen laufen Ermittlungen, die allerdings noch andauern. Sie betreffen fünf Sportarten, zwei Sommer- und drei Wintersportarten; und jedenfalls Langlauf, Rad und Triathlon.
Nicht demnächst, aber wohl in den nächsten Wochen dürften die weiteren gedopten Sportler auffliegen. Sollten weitere Österreicher den Dopingfahndern ins Netz gegangen sein, so drohen ihnen eine Anklage wegen Sportbetrugs und bis zu drei Jahre Haft. Sportarzt Mark S. und seine Helfer müssen mit Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren rechnen.
Keine systematische Unterstützung
Die „Operation Aderlass" hat zuletzt immer wieder eine Frage aufgeworfen: Gibt es systematisches Doping? Vor allem der Österreichische Skiverband (ÖSV) sah sich mit diesem Vorwurf konfrontiert, nachdem erneut zwei Langläufer ertappt wurden. ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel verneinte strikt und ging deshalb zur Gegenattacke über. Er stellte sogleich in den Raum, dass auch deutsche Sportler im Verdacht stünden, in den Dopingskandal rund um den Erfurter Sportarzt Mark S. verwickelt zu sein.
Systematisches Doping ist eigentlich ein zu oberflächlicher Begriff. Der Leitende Oberstaatsanwalt Hans Kornprobst von der Staatsanwaltschaft München erklärt gegenüber der TT, dass sich aus den Fakten der Münchner Schwerpunktstaatsanwaltschaft kein systematisches Doping in Sportverbänden ableiten lasse. „Doch Doping ist sehr komplex, dahinter steckt natürlich ein System." Und er verweist auf den aktuellen Dopingfall mit dem organisierten Netzwerk. Seine Ermittler besäßen keine „hinreichenden Fakten, dass in Sportverbänden eine systematische Unterstützung von Doping stattfindet".
Und sind letztlich auch deutsche Sportler betroffen? Dopingfahnder und Staatsanwalt Kai Gräber will aus ermittlungstaktischen Gründen derzeit nichts zu weiteren Namen sagen. Wie bewertet er Schröcksnadels Aussagen? „Wir sind mitten in den Ermittlungen und noch nicht am Ende."
Der Chef der deutschen Anti-Doping-Agentur NADA, Lars Mortsiefer, hält nichts von Schnellschüssen. Er streicht die hervorragende Zusammenarbeit in Dopingfragen mit Österreich und der Schweiz hervor. Der Landessportbund Thüringen mit seinen Olympiastützpunkten prüft derzeit aber mögliche Verstrickungen der einzelnen Fachverbände mit dem Doping-Arzt. Dessen in Seefeld ebenfalls verhafteter und inzwischen nach München überstellter Vater war nämlich eine große Nummer im Thüringer Sportwesen. Wie auch dessen Partner in der Rechtsanwaltskanzlei in Erfurt. (pn)
- Mark S. Der Arzt, der früher im Radsport aktiv war, hat seit Ende 2011 an Profisportlern Blutdoping betrieben. Der Mediziner mit Praxis in Erfurt und vier seiner Helfer befinden sich in Untersuchungshaft. Nach dem Arzt und einem Mann in Erfurt sowie einer Frau — sie hat in Innsbruck gegen ihre Auslieferung Beschwerde eingelegt — und seinem an Deutschland ausgelieferten Vater wurde am Montag eine fünfte Person aus dem Netzwerk festgenommen.
- Kooperation mit Österreich. Die Ermittlungen erfolgten minutiös, innerhalb von sechs Wochen gab es in Seefeld und Erfurt die Zugriffe. Bei der Strafverfolgung hat laut Staatsanwalt Kai Gräber die Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft Innsbruck und dem Bundeskriminalamt, die die Razzien während der Nordischen Ski-WM in Seefeld am 27. Februar vorgenommen hatten, hervorragend geklappt.
- Dreistellige Anzahl von Transfusionen. Die Sportler haben zwischen 2011 bis zu den Doping-Razzien in Seefeld eine dreistellige Anzahl von Bluttransfusionen bekommen, für die der Erfurter Arzt verantwortlich war. Bei der „Operation Aderlass" wurden in Seefeld Max Hauke und Dominik Baldauf festgenommen. Hauke ertappte man sozusagen in flagranti mit der Nadel im Arm. Beide Langläufer haben das Blutdoping gestanden.
- Zuordnung der Blutbeutel und andere Präparate. Bisher ging man davon aus, dass es für die Zuordnung der 40 bis 50 Blutbeutel einen DNA-Abgleich von Sportlern benötigt. Staatsanwalt Gräber ist „zuversichtlich", dass die bei Mark S. codiert beschrifteten Blutbeutel auch ohne DNA-Abgleich Sportlern zugeordnet werden können. Beim Arzt fand außerdem nicht nur Blutdoping statt, auch Wachstumshormone wurden in der Garage gefunden.
- Doping-Accessoires als Geldquelle. Der in Österreich wegen seiner Doping-Praktiken verurteilte Sportmanager Stefan Matschiner hat seine Doping-Hilfsmittel wie Blutzentrifuge und Gefrierschrank zu Barem gemacht. Mark S. hat ihm die beiden Geräte um 50.000 Euro abgekauft. Ein Verfahren droht ihm deshalb nicht. Matschiner hatte zuletzt erklärt, er habe das Gerät einfach nur weitergegeben.
- Schwerpunktstaatsanwaltschaft. Die Münchner Schwerpunktstaatsanwaltschaft zur Bekämpfung der Doping-Kriminalität hat in den zehn Jahren ihres Bestehens 7100 Ermittlungsverfahren durchgeführt. Während es in den ersten beiden Jahren jeweils rund 200 Verfahren gegeben habe, seien es in den vergangenen fünf Jahren jeweils zwischen 700 und 1100 Verfahren gewesen. Bis Ende 2018 gab es 1244 Verurteilungen.