Brexit-Wirrwarr hält an

Brexit-Aufschub könnte EU auf problematisches Terrain führen

Brexit-Befürworter demonstrieren vor dem Parlament in London.
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Die britische Premierministerin will London noch bis 30. Juni in der EU halten. Was eine solche Verlängerung für Risiken birgt – und ob sie überhaupt machbar wäre.

Von Martin Trauth/AFP

Brüssel, London — Die bristische Premierministerin Theresa May will den Brexit bis Ende Juni verschieben. Damit stieß sie vor dem EU-Gipfel am Donnerstag auf Widerstand in Brüssel. Denn die EU könnte auf rechtlich unsicheres Terrain geraten. Viele EU-Regierungen plädieren deshalb für eine Verschiebung nur bis zu den Europawahlen im Mai. Ein Überblick:

Verschiebung bis zur Europawahl

Die acht Wochen bis zur Europawahl vom 23. bis 26. Mai gelten in Brüssel als unproblematisch. Denkbare Szenarien für eine solche „technische" Verlängerung wären entweder mehr Zeit für Großbritannien, um einen doch noch gebilligten Austrittsvertrag umzusetzen, oder die Schaffung eines zusätzlichen Puffers zur Vorbereitung auf einen chaotischen Austritt. Denn EU-Diplomaten verwiesen zuletzt darauf, dass viele europäische Unternehmen weiter nicht ausreichend auf ein solches No-Deal-Szenario vorbereitet sind.

Verlängerung bis Ende Juni

Mit dieser Forderung kommt May zum Gipfel. EU-Ratspräsident Donald Tusk hält dies für möglich, macht aber zur Bedingung, dass das Unterhaus das mit der EU ausgehandelte Austrittsabkommen kommende Woche im dritten Anlauf annimmt. Ein Rechtsgutachten des Europaparlaments hält die Verschiebung bis zum 30. Juni für machbar, ohne dass Großbritannien verpflichtet wäre, selbst Europawahlen abzuhalten. Problematisch würde es demnach erst ab dem 2. Juli, wenn das neue Parlament erstmals zusammentritt.

Auch die Juristen des EU-Rats halten eine solche Variante für machbar. Sie verweisen aber darauf, dass eine — theoretisch mögliche — nochmalige Verlängerung dann aber ausgeschlossen werden müsste. Die EU-Kommission ist deutlich skeptischer. Sie warnte am Mittwoch vor „ernsthaften rechtlichen und politischen Risiken" und hat dabei gleichfalls Szenarien im Blick, bei denen Großbritannien auch im zweiten Halbjahr 2019 noch nicht ausgetreten wäre.

Über eine Million Menschen unterschreibt Petition für Exit vom Brexit

Viele Briten scheinen inzwischen das Gezerre um den EU-Austritt satt zu haben. Mehr als eine Million Menschen unterzeichneten bis Donnerstag eine ans Unterhaus gerichtete Online-Petition, in der gefordert wird, den Brexit einfach abzusagen und in der Europäischen Union zu bleiben. Zeitweise war die Webseite Medienberichten zufolge wegen des Ansturms nicht zu erreichen.

"Die Regierung behauptet immer wieder, der Austritt aus der EU wäre der "Wille des Volkes"", heißt es in dem Petitionstext. Dem müsse ein Ende bereitet werden, indem die Stärke der öffentlichen Unterstützung für einen Verbleib deutlich gemacht werde. Das Parlament muss den Inhalt jeder Petition mit mehr als 100.000 Unterzeichnern für eine Debatte berücksichtigen.

Großbritannien kann die Erklärung zum EU-Austritt theoretisch einseitig zurückziehen. Den Weg hat der Europäische Gerichtshof in einem Urteil im Dezember bestätigt. Das Land bliebe dann wie bisher Mitglied der EU. Ein weiterer Austrittsantrag wäre damit nicht ausgeschlossen.

Über Anfang Juli hinaus noch EU-Mitglied

Großbritannien müsste dann Europawahlen abhalten und gewählte Abgeordnete ins neue Parlament entsenden. Großbritannien würde dort 73 Sitze behalten. Die geplante Verkleinerung der Kammer von 751 auf 705 Abgeordnete fiele aus. 27 weiteren britische Sitze würden auch nicht wie vorgesehen auf andere Mitgliedstaaten verteilt. In Ländern wie Frankreich und Belgien würden dann zwar zusätzliche EU-Abgeordnete gewählt, sie könnten ihren Posten aber nicht antreten, solange die Briten noch Mitglied sind.

Rechtliche Risiken

Problematisch würde es, wenn sich Großbritannien weigert, Europawahlen abzuhalten. Die EU-Kommission könnte dann ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Doch bis zu einer Entscheidung vor dem Europäischen Gerichtshof könnten Jahre vergehen.

Über die Folgen für die Parlamentsarbeit gibt es unterschiedliche Ansichten. Die Juristen des Parlaments halten Rechtsakte dennoch für gültig. Der Rechtsdienst des Rates der Mitgliedstaaten sieht das anders und fordert deshalb, eine Verlängerung ohne britische Teilnahme an den Europawahlen auf die Zeit bis zum 1. Juli zu beschränken.

Am deutlichsten wird ein internes Dokument der EU-Kommission: Es warnt, diese Variante könne die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments „illegal" machen. „Und diese Illegalität würde alle seine nachfolgenden Entscheidungen infizieren". Fazit: „Jede Entscheidung wäre rechtlich anfechtbar."

Politische Risiken

Erste Aufgabe des neuen Parlaments wäre es, im Juli den nächsten Präsidenten der EU-Kommission für eine fünfjährige Amtszeit zu wählen. Er benötigt die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Parlaments. Bleiben die Briten und stellen sie Abgeordnete, hätten sie mit fast zehn Prozent der Stimmen beträchtlichen Einfluss auf die Besetzung des mächtigen Postens — obwohl sie die Union selbst nach einigen Monaten wahrscheinlich verlassen werden.

Auch die gesetzgeberische Arbeit des Parlaments könnte eine ganz andere Richtung nehmen. Mit britischen Vertretern im Parlament würde sich die Zahl der europaskeptischen Abgeordneten weiter erhöhen, bemerken Experten des Brüsseler European Policy Centre (EPC). Dies könne „nachteilige Folgen für das Machtgleichgewicht" im Parlament haben.