Brexit-Chaos

„Positive“ Gespräche mit Corbyn: Kommt Mays Brexit-Kompromiss?

May hatte am Dienstagabend eine Kehrtwende vollzogen und erstmals einen Schritt auf Corbyn zu gemacht, nachdem sich in den Tagen zuvor im Parlament keine Mehrheit für eine der möglichen Brexit-Varianten gefunden hatte.
© AFP

Die Premierministerin sucht seit Mittwoch erstmals mit Labour-Chef Jeremy Corbyn nach einer Art Notlösung für den Ausstieg aus der EU. Ein möglicher Kompromiss könnte eine Zollunion mit der EU bringen. Verfechter eines harten Brexits unter Mays Konservativen wittern Verrat.

London – Die britische Premierministerin Theresa May sucht seit Mittwoch gemeinsam mit Oppositionsführer Jeremy Corbyn nach einem Ausweg aus der Brexit-Sackgasse. May kam am Mittwoch mit dem Labour-Chef zusammen, um einen chaotischen EU-Austritt ohne Abkommen am 12. April zu verhindern. Damit scheint nun ein „weicher Brexit“ wahrscheinlich. Aus Protest dagegen traten zwei Staatssekretäre zurück.

Corbyn sagte nach dem ersten Treffen mit May am Mittwoch laut einem Bericht der Zeitung Daily Mirror, das zweistündige Gespräch sei „sehr gut“ verlaufen. Ein Sprecher Corbyns sprach von „konstruktiven Erkundungsgesprächen“. Es sei ein Arbeitsprogramm zusammengestellt worden, anhand dessen die beiden Seiten nun „den Spielraum für eine Einigung“ erörtern könnten. Ein Sprecher Mays sprach ebenfalls von konstruktiven Gesprächen, in denen sich beide Seiten flexibel gezeigt hätten. Die BBC berichtete, dass Vertreter von Tories und Labour am Donnerstag die Gespräche fortsetzen sollen.

Keine Alternativ-Abstimmungen mehr

Im Unterhaus fand indes ein Antrag für eine Fortsetzung der Alternativ-Abstimmungen zum Brexit keine Mehrheit. Parlamentspräsident John Bercow entschied das Votum, nachdem es ein Patt von 310 zu 310 Stimmen gegeben hatte.

May hatte am Dienstagabend eine Kehrtwende vollzogen und erstmals einen Schritt auf Corbyn zu gemacht, nachdem sich in den Tagen zuvor im Parlament keine Mehrheit für eine der möglichen Brexit-Varianten gefunden hatte. Sie wolle mit dem Oppositionschef nach einem gemeinsamen Plan suchen, um die EU auf „geordnetem Weg“ verlassen zu können, sagte May. Corbyn erklärte, er sei „sehr gerne“ dazu bereit.

Antrag auf erneuten Aufschub

Zugleich kündigte die Premierministerin an, einen erneuten Aufschub über den 12. April hinaus bei der EU zu beantragen. Durch einen „möglichst kurzen“ Aufschub solle das Parlament die Zeit bekommen, doch noch ein Austrittsabkommen zu beschließen. „Mit einem Abkommen auszutreten ist die beste Lösung“, sagte May.

Corbyn ist für viele Politiker der konservativen Regierungspartei ein rotes Tuch. Er gehört zum linken Labour-Flügel. 2015 kandidierte er mit sozialistischen Positionen für das Amt des Parteichefs und wurde überraschend gewählt.

May sagte vor ihrem Treffen mit Corbyn, sie stimme mit dem Oppositionsführer beim Brexit „in etlichen Bereichen“ überein. Es gehe darum, eine Lösung zu finden, für die es eine Mehrheit im Unterhaus gebe. Den Verbleib in einer Zollunion mit der EU schloss May ausdrücklich nicht aus.

Viele Parteikollegen von May empört

Eine Zollunion über den Brexit hinaus ist eine Kernforderung von Labour. Auch bei der Unterhaus-Abstimmung über Brexit-Alternativen am Montag war der Vorschlag für eine Zollunion unter den Varianten mit den meisten Unterstützern.

May hat solche Forderungen bisher abgelehnt. Entsprechend empört reagierten zahlreiche Tories nun auf ihr Gesprächsangebot an Labour. Der Staatssekretär für Wales, Nigel Adams, und der Brexit-Staatssekretär Chris Heaton-Harris erklärten am Mittwoch ihren Rücktritt.

Adams bezeichnete Mays Kehrtwende in einem Brief an die Premierministerin als „schweren Fehler“. Es sei klar, dass Großbritannien nun „in der Zollunion enden“ werde. „Das ist nicht der Brexit, der meinen Wählern versprochen wurde“, schrieb Adams.

Heaton-Harris schrieb an May, er könne eine weitere Brexit-Verschiebung „einfach nicht unterstützten.“ May wolle die EU offensichtlich nicht ohne Abkommen verlassen, fügte der Tory-Abgeordnete hinzu, der als Parlamentarischer Staatssekretär unter Brexit-Minister Stephen Barclay für die Vorbereitungen auf einen ungeordneten Brexit zuständig war. Diese Haltung mache seinen Job in der Regierung „irrelevant“. Mit den beiden Staatssekretären sind in den vergangenen zwölf Monaten bereits 36 Regierungsmitglieder zurückgetreten, fast alle im Streit um den Brexit.

Barclay erklärte, May wolle „ohne Vorbedingungen“ mit Corbyn verhandeln. Falls es nicht zu einer Einigung komme, wolle die Regierung in den kommenden Tagen wieder das Parlament über Brexit-Alternativen abstimmen lassen. Diese Abstimmungen seien für die Regierung dann „bindend“, sagte Barclay. Im „nationalen Interesse“ werde May akzeptieren, „wofür das Parlament gestimmt hat“.

Juncker und Merkel mahnen zu geordnetem Brexit

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel mahnten erneut zu einem geordneten Brexit. Merkel sagte, sie werde „bis zur letzten Stunde“ für einen Brexit mit Abkommen kämpfen. Auch Juncker betonte in Brüssel, er werde „bis zum letzten Augenblick“ für einen geregelten EU-Austritt Großbritanniens kämpfen. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) rief zum Daumendrücken für Premierministerin May auf, damit sie vielleicht doch noch einen Ausweg zur Vermeidung eines „Hard Brexit“ finde. Auf die Frage nach einer möglichen Fristerstreckung sagte er nach dem Ministerrat in Wien, dies sei angesichts des unveränderten Chaos in London „pure Spekulation“.

Der britische Notenbank-Chef Mark Carney hält allerdings einen Chaos-Brexit für wahrscheinlich. Das Risiko sei „beunruhigend hoch“, sagte Carney im Sender Sky News. Obwohl das britische Parlament und die Regierung gegen einen EU-Austritt ohne Abkommen seien, könne dies noch „aus Versehen“ passieren. Die Behauptung der Brexit-Hardliner, die wirtschaftlichen Folgen abfedern zu können, sei „absoluter Blödsinn“. (APA/dpa/Reuters/AFP)

Aktuelles zum Brexit im Newsblog: https://go.tt.com/brexit-blog

Das sagt die internationale Presse

Die Neue Zürcher Zeitung am Mittwoch:

„Damit hat Theresa May endlich das getan, was viele ihrer Kritiker schon lange von ihr gefordert hatten: Sie hat den Versuch aufgegeben, die Brexit-Hardliner unter den Tories auf ihre Seite zu ziehen. Stattdessen geht sie nun auf die Abgeordneten der Opposition zu. Offenkundiges Ziel ist es, mithilfe von gemäßigten Konservativen und einem großen Teil der Labour-Abgeordneten eine neue Mehrheit im Unterhaus zusammenzubringen, welche den Austrittsvertrag doch noch gutheißt. (...)

Immerhin signalisiert dieses Vorgehen, dass May den Ernst der Lage erkannt hat und bereit ist, herkömmliche parteipolitische Prinzipien über Bord zu werfen. Ob sie das Misstrauen aufseiten Labours damit beseitigen kann, muss sich erst weisen. Es wird auch spannend zu beobachten sein, welchen Preis Corbyn für sein Mitmachen fordern wird.“

De Tijd

(Brüssel):

„Das ist eine überraschende Initiative von Theresa May. Erst kurz vor der auslaufenden Frist ist die britische Premierministerin bereit, nach einem Kompromiss zu suchen, für den es eine Mehrheit im Parlament gibt. (...) Mays Pokerspiel wird die politischen Gemüter in Großbritannien nicht besänftigen. Die Befürworter und die Gegner werden sich weiterhin mit gezogenen Messern gegenüberstehen. In einem solchen Klima ist jeder Kompromiss suspekt. Mit dieser Initiative spielt May ihren letzten Trumpf aus. Wenn dies misslingt, wird ein harter Brexit wieder wahrscheinlicher. Irgendwann muss das aufhören. Und wie der französische Präsident Emmanuel Macron sagt: Europa kann die politischen Probleme der Briten nicht lösen. Es ist das ultimative Glücksspiel einer Premierministerin, die am Ende ist.“

Guardian

am Mittwoch:

„Es spricht Bände, dass die Premierministerin erst mit dem Rücken an der Wand zur Vernunft kommt und nun akzeptiert, dass die seit langem vorgebrachten Argumente ihrer Opponenten mit berücksichtigt werden müssen. Die Frage ist, ob sie dafür im Herzen wirklich so offen ist wie die Tür zu ihrem Amtssitz Downing Street Nr. 10. (...)

Die EU sagt, sie wolle einen weiteren Aufschub nur akzeptieren, wenn May einen Ausweg aus dem derzeitigen Schlamassel präsentiert. Da sie eine Minderheitsregierung führt, hätte eigentlich längst klar sein müssen, dass sie auf Unterstützung über Parteigrenzen hinweg angewiesen sein wird. Damit so lange zu zögern und dann solche Vorbedingungen zu stellen bedeutet, dass May mit dem Feuer spielt. Sollte es keine Aussicht auf eine Verständigung über eine Form des Brexits und keinen Aufschub geben, muss Großbritannien entweder vom EU-Austrittsartikel 50 Abstand nehmen oder am Freitag in einer Woche ohne ein Abkommen austreten. Sollte das Land in diese missliche Lage geraten, wird May daran schuld sein.“

Verwandte Themen