Tirol

Entführungsversuche erfunden: „Hysterie ist kontraproduktiv“

Kinder sollten in Gruppen zur Schule gehen, rät Hans-Peter Seewald vom Landeskriminalamt.
© APA/GEORG HOCHMUTH

Frei erfunden waren zwei Entführungsversuche in Telfs. Warum Kinder sich so etwas ausdenken, welche Rolle soziale Netzwerke spielen und wie im Ernstfall zu reagieren ist.

Von Benedikt Mair

Innsbruck — Zwei Freundinnen, die dieselbe Volksschulklasse in Telfs besuchen, melden Donnerstagfrüh Besorgniserregendes bei ihrer Klassenlehrerin. Unabhängig voneinander seien sie angesprochen, zu einem Auto gelockt und eine der beiden fast hineingezerrt worden. Für besorgte Eltern gibt es gestern Entwarnung: Die Geschichte der Mädchen war frei erfunden, Gefahr besteht keine.

Keine Böswilligkeit

Böswilligkeit sei den Mädchen keine zu unterstellen, betonte die Polizeipressestelle. Hans-Peter Seewald, im Tiroler Landeskriminalamt (LKA) zuständig für die Kriminalprävention, bestätigt das: „Besonders wenn vermeintliche oder tatsächliche Entführungsversuche in Zeitungen oder im Internet Thema sind, kommt es immer wieder vor, dass Fälle erfunden werden."

War es der Wunsch nach Aufmerksamkeit? Nervenkitzel? Warum erfinden Kinder solche Geschichten? „Grundsätzlich ist es so, dass mehrere Faktoren ein Grund dafür sein könnten, dass sich Kinder so etwas ausdenken. Über einen Kamm scheren lässt es sich nicht", sagt der Innsbrucker Kinderpsychologe Gerhard Nosko. Kinder thematisieren das, was auch Erwachsene zum Thema machen, weiß er. „Vor allem im Volksschulalter kann es sein, dass Worte alleine für die Kinder zu wenig sind, um das Erklärte dann auch einordnen zu können. Sie neigen dazu, Gehörtes auszuprobieren, zu erfahren, was für ein Gefühl das ist und was dann passiert. Auch der Wunsch nach Aufmerksamkeit könnte eine Rolle beim Erfinden solcher Geschichten spielen. Und schließlich verstoßen Kinder, besonders in unserer überregulierten Gesellschaft, fast zwangsläufig gegen Regeln und suchen dabei Spannung und Action — ganz im Sinne des guten alten Lausbuben- bzw. -mädchenstreichs."

"Hysterie macht es nur interessanter"

Strafen, Schimpfen oder noch striktere Regeln wären, laut Nosko, daher die falsche Reaktion. Denn: „Hysterie und Panikmache sind kontraproduktiv. Das macht es nur interessanter. Mit dem Thema sollte angstfrei und sachlich umgegangen werden. Es spielerisch aufzugreifen, ist ratsam. Die Kinder können sich ausprobieren, im Ernstfall die richtige Verhaltensweise besser abrufen."

Zur Panikmache trugen im Fall der vermeintlichen Entführungen in Telfs auch die sozialen Medien bei. Hundertfach wurde eine am Donnerstag veröffentlichte Warnung geteilt. „Diese bedienen sich eines emotionalisierenden Effekts, sprechen das menschliche Urgefühl der Angst an", fasst der bekannte Gerichtspsychiater Reinhard Haller zusammen. „Diese Angst ist besonders groß, wenn es um Kinder geht." Entgegenwirken ließe sich der „Hysterie" in den sozialen Netzwerken mit „sachlichen Informationen", betont Haller. „Diese entängstigen. Besonders die für Sicherheit zuständigen Organe wie die Polizei sind hier gefragt. Diese sollten in den sozialen Netzwerken direkt auf solche Meldungen reagieren, sie eventuell richtigstellen. Am schlimmsten wäre es, sie zu verschweigen."

Im Ernstfall weglaufen und um Hilfe rufen

Hans-Peter Seewald vom LKA mahnt: „Wenn doch der Ernstfall eintritt, dann sollen Kinder nicht auf das Ansprechen reagieren, weglaufen und wenn nötig laut um Hilfe rufen." Am besten sei es, wenn „sie nicht alleine, sondern in Gruppen den Schulweg antreten".

Bekannte Fälle

Juni 2010: In einem Einkaufszentrum in Salzburg entführt eine damals 31-jährige Unterländerin einen Säugling. Sie habe sich, nach einer Fehlgeburt, ein Kind gewünscht, gab sie an. Die Frau wird zu drei Jahren Haft verurteilt.

Oktober 2005: Ein 24-jähriger Tiroler scheitert durch das Einschreiten der Mutter mit seinem Versuch, einen fünfjährigen Buben in Imst in seinen Pkw zu zerren. Er wird verhaftet.

Jänner 2003: Ein Syrer aus Garmisch-Partenkirchen zerrt eine siebenjährige Innsbruckerin auf dem Weg zur Volksschule in den Kofferraum seines Kombis. Als er auf dem Seefelder Plateau zu einer Unfallstelle kommt, gerät er in Panik und lässt sein Opfer wieder frei. Er wird zu 15 Jahren Haft verurteilt.

März 1995: Ein Achtjähriger wird in Münster zur Pfarrkirche gelockt, entführt und wenige Stunden später mit einem Kissen erstickt. Die damals 28-jährige Entführerin gibt Geldsorgen als Motiv an. Sie wird zu lebenslanger Haft verurteilt.

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