Internationale Pressestimmen zur Präsidentenwahl in der Ukraine 1

Kiew (APA/dpa) - Zur Wahl von Wolodymyr Selenskyj zum Präsidenten der Ukraine schreiben Zeitungen international am Dienstag:...

Kiew (APA/dpa) - Zur Wahl von Wolodymyr Selenskyj zum Präsidenten der Ukraine schreiben Zeitungen international am Dienstag:

„NZZ“ (Zürich):

„Dass der Verlierer Poroschenko seine Herrschaft nicht mit kruden Betrügereien zu verlängern versucht hat, sondern seine Niederlage anerkennt und seinen Sessel räumt, ist vor dem Hintergrund fataler Praktiken in weiten Teilen der ehemaligen Sowjetunion ein Ausdruck demokratischer Reife. Trotzdem lässt sich nicht wegdiskutieren, dass das Resultat vom Sonntag ein Alarmzeichen darstellt. Ein Wahlvolk, das einen Unterhaltungskünstler ohne jegliche politische Erfahrung an die Spitze des Staates hievt, signalisiert - das hat schon der Fall Trump in den USA gezeigt - eine tiefe Krise der Politik. In einem solchen Resultat kommt das Totalversagen der herkömmlichen Garde der Politiker zum Ausdruck, unabhängig von deren ideologischen Schattierungen.“

„De Tijd“ (Brüssel):

„Selenskyj ist vor allem an die Macht gekommen, weil die Ukrainer die bisherige Regierung satt hatten. Es gab mehr „Gegen“-Stimmen sowie Stimmen für „Veränderungen“, ohne dass diese Veränderungen konkret erläutert wurden. Die Ukraine ist für Europa von strategischer Bedeutung. Das Land hat erhebliche Spannungen zwischen Russland und Europa ausgelöst. Eine neue Führung und ein Durchbruch auf diesem Gebiet wären willkommen. Es ist jedoch nicht sicher, dass dies auch wirklich geschieht. Sicher ist derzeit nur, dass das Land einen großen Sprung ins Ungewisse wagt. Es bleibt abzuwarten, wie die Landung verläuft.“

„de Volkskrant“ (Amsterdam):

„Die wichtigste Frage ist jedoch, ob Selenskyj dem russischen Präsidenten Putin gewachsen sein wird. Dieser hofft, dass er im Austausch für Investitionen in die angeschlagene ukrainische Wirtschaft den Komiker dazu verleiten kann, eine Abmachung über den Status des Donbass zu treffen, einem Gebiet, in dem die Separatisten die Macht haben. Auf diese Weise hofft Moskau, von den Sanktionen loszukommen, die westliche Länder 2014 gegen Russland verhängt haben. Im Gegensatz zu Putin, mit dessen Namen bereits mehrere krumme Militäroperationen verbunden sind, verfügt Selenskyj über keinerlei militärische oder diplomatische Erfahrung. Es besteht die Gefahr, dass er sich von dem abgebrühten Kremlbewohner hinters Licht führen lässt.“

„Ukrajina Moloda“ (Kiew):

„Wie das eine oder andere Problem gelöst werden soll, ist bislang unbekannt. Denn bisher bleiben die Fragen der Parlamentsarbeit, der Gesetzentwürfe zur Sprache und zur Amtsenthebung des Präsidenten offen. Denn eine Arbeit der parlamentarisch-präsidialen Republik ohne Mehrheit in der Obersten Rada kann jeglichen Versuch des neugewählten Präsidenten zunichte machen, wenn er Gesetzentwürfe einbringen will. Daher sollte man darauf achten, ob die Parlamentarier schnell die Farbe wechseln und zum Team des neugewählten Präsidenten ‚überlaufen‘.“

„Gazeta Wyborcza“ (Warschau):

„Das Ergebnis der ukrainischen Präsidentenwahl hat die Erwartungen Moskaus nicht erfüllt. Dort hatte man sich auf eine „massenhafte Wahlfälschung“ und einen Skandal in Kiew eingestellt. (...) Größere Schwierigkeiten als der neue unberechenbare Führer eines für Russland wichtigen Landes dürfte Moskau aber der exakt funktionierende Mechanismus der ukrainischen Wahlen bereiten.

Kremlkritische demokratische Oppositionelle, die in sozialen Medien laut hörbar sind, wiederholen, dass sich die Ukrainer auf friedliche Weise von einem Präsidenten getrennt haben, der sich „verbraucht hat und von dem sie genug hatten“. Und das bringt auch die Russen auf sündige Gedanken. Denn wie die Umfragen zeigen, hat sich auch dort der Präsident zunehmend verbraucht.“

„El Periodico“ (Madrid):

„Der Komiker (Selenskyj) hat den Kampf gegen die Korruption zum Leitmotiv seines Wahlkampfes gemacht. Und diese Botschaft hat am Ende die Mehrheit der Wähler überzeugt. Sie wollten lieber einen Mann an der Macht haben, der mit seiner politischen Unerfahrenheit und mit seiner Absicht prahlt, das System zu zerstören, als dass Petro Poroschenko wiedergewählt wird. Dieser hat während seiner Amtszeit gezeigt, dass er unfähig ist, die Korruption zu bekämpfen und den Konflikt mit Russland zu lösen. Für eine unzufriedene Gesellschaft war Kontinuität keine Option.“

„Lidove noviny“ (Prag):

„In einem Land, das unter dem Konflikt mit Russland, weit verbreiteter Korruption und einer miserablen wirtschaftlichen Lage leidet, ist der Erfolg Selenskyjs keine so große Überraschung. Für die Ukrainer ist seine Wahl freilich ein riskantes Lotteriespiel, denn es ist unklar, wer alles (außer dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj) im Hintergrund die Fäden zieht. Doch die Auswahl unter den Kandidaten war nicht groß. (...) Eines ist in jedem Fall sicher: Selenskyj wird politische Allianzen schmieden müssen, die freilich seinen Reformschwung stark bremsen oder sogar zum Stillstand bringen könnten.“

„Nesawissimaja Gaseta“ (Moskau):

„Moskau sollte versuchen zu verstehen, wie Selenskyj überhaupt gewinnen konnte - vor allem, wenn wir auch nur ansatzweise Beziehungen zur neuen ukrainischen Macht aufbauen wollen. Die Wirtschaft der Ukraine steckt in einer tiefen Krise. Gleichzeitig hat Selenskyj weder ein starkes Wirtschaftsteam noch ein Programm hinter sich. Im Wahlkampf machte er kaum konkrete Aussagen. Es könnte also sein, dass die Ukrainer einfach einen „Anti-Poroschenko“ wählen wollten. Es könnte auch sein, dass die Menschen auch einfach nur für Frieden und eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland gestimmt haben. Und es könnte tatsächlich sein, dass das mit Selenskyj kommen könnte. Aber da muss er erst mal liefern. Und Moskau muss diese politische „Message“ richtig interpretieren.“

„Neatkariga Rita Avize“ (Riga):

„Seinem Programm mangelte es an Konkretheit: Ein Land ohne Korruption, mit höheren Löhnen und Renten, schnellem Internet und guten Straßen - gegen diese Versprechen wird niemand irgendwelche Einwände erheben. Auf der anderen Seite sind die Befugnisse des Präsidenten bei innenpolitischen Fragen eher begrenzt und ohne Unterstützung des Parlaments können keine wesentlichen Reformen durchgeführt werden.

Selenskyj wird Ende Mai das Amt des Präsidenten übernehmen, aber seine Hände könnten durch Poroschenkos treue Mehrheit im Parlament gebunden sein. Lange wird das aber nicht andauern, denn im Oktober werden in der Ukraine Parlamentswahlen abgehalten. Die Frage ist: Wird Selenskyj bis dahin seine Popularität beibehalten können?“