„Löwenchor“: Zarte Rauchzeichen zwischen Herz und Seele
Zum Weinen schön: György Dragomán gelingt mit seinem Novellenband „Löwenchor“ große Literatur in zierlichsten Häppchen.
Von Bernadette Lietzow
Wien –Ein Buch wie eine Schachtel edelstes Konfekt, von dem man sich immer nur ein Stückchen langsam im Mund zergehen lässt, um dessen Geschmack möglichst lange auszukosten. Die Rede ist von György Dragománs „Löwenchor“, in dem der rumänisch-ungarische Schriftsteller, geboren 1973 im siebenbürgischen Târgu Mure, mit kleinen und kleinsten Prosaskizzen, oder, wie er es bezeichnet wissen möchte, Novellen, eine Fülle an Lebenswelten aneinanderreiht.
Herzzerreißend und komisch, tieftraurig und überraschend sind diese Miniaturen, locker zusammengehalten vom Generalthema Musik, das sich in unterschiedlichsten Erscheinungsformen Gehör verschafft. Ein schwarzes Musik-Märchen eröffnet den Reigen aus 29 Geschichten: Mit der Erschaffung der allmächtigen Schreckgestalt eines „schwarzen Geigers“ drillt ein Vater seinen jungen Sohn zu Höchstleistungen auf der Violine. Ein Miniroman auf vierzehn Seiten erzählt das Leben einer gefeierten Jazzsängerin, vom Beginn der Karriere als Teenager über ihren Sohn, der als kleines Kind vermutet, die Musik wäre sein Vater, bis hin zur Krebserkrankung, von der sie sich als „körperloser Ton“ gleichsam innerlich lossagt.
Wie in seinen Romanen „Der weiße König“ (2008) und „Der Scheiterhaufen“ (2015) stets präsent, reflektiert der Autor auch in „Löwenchor“ die in der Kindheit und Jugend gemachten Diktatur-Erfahrungen, in seinem Fall mit der alle Lebensbereiche beherrschenden und sämtliche Solidaritäten zerstörenden Brutalität des Ceausescu-Regimes und der rumänischen Nachwendezeit. Seinen beiden jungen Söhnen hat der 1987 mit den Eltern nach Ungarn exilierte und in der Nähe Budapests lebende Dragomán sein neues Buch gewidmet und Kinder mit ihrer stupenden Fähigkeit, der Realität ein Schnippchen zu schlagen, tragen einen Teil der Erzählungen.
Mit dem gelähmten Großvater erlebt da ein Stöpsel großartige Ohrensessel-Kopf-Abenteuer, mutiert auf dessen Schoß zum Jockey oder fordert in dessen altem Frack die Großmutter zum Walzer auf, um dem kecken Opa die Gelegenheit zu geben, das Neujahrskonzert in Dauerschleife abzuwürgen. Wunderschön all die literarischen Kleinode rund um das Zauberthema Weihnachten, wenn Engeln mit kindlicher Überzeugung wahrhaft Überirdisches zugetraut wird. Knappe eineinhalb Seiten werden benötigt, um das Unvermögen von uns Nicht-Betroffenen in Bilder zu gießen, sich in Menschen inmitten des Syrien-Krieges einzufühlen. „Eis“ übertitelt der Autor die Geschichte des zu einem Gastspiel in Budapest weilenden syrischen Musikers Khalid, dem beim Abschiedsempfang mit sattsam bekannter Unverbindlichkeit begegnet wird. Meist ist es Melancholie, die zart wie Blütenstaub über den vielen Erwachsenen und Kindern, Gaunern und Sonderlingen, Selbstmördern und Hardrock-Fans liegt.
Sprachlich äußerst präzise eröffnet Dragomán Phantasie-Räume, ohne jemals überbordend zu sein. Timea Tankó gelang zudem eine bemerkenswerte Übersetzung ins Deutsche, die Übertragung der Novelle „Puerta del Sol“ steuerte keine Geringere als Schriftsteller-Kollegin Terézia Mora bei. Viele Bücher in einem!
Novellen György Dragomán: Löwenchor. Suhrkamp, 269 Seiten, 25,70 €.