Heute weiht er „Klein-Tirol“ ein
Jean-Claude Marclay arbeitete zehn Jahre als Klinikseelsorger in Innsbruck. Jetzt lebt der Priester 200 km nördlich des Polarkreises. Zu einem besonderen Fest hisst er heute die Tiroler Flagge.
Von Matthias Christler
Vittangi –In einer Holzhütte in Lappland, der nördlichsten Gegend Skandinaviens, in der nördlichsten Gemeinde Schwedens, viel weiter nördlich geht kaum, werden heute Tiroler Melodien erklingen. Die Gäste einer Eröffnung werden Textzeilen hören wie „Tirol is lei oans, is a Landl a kloans“ und diese erst einmal nicht verstehen. Sie werden den Mann, der sie eingeladen hat, nach der Bedeutung fragen. Und Jean-Claude Marclay, 52 Jahre alt und in Innsbruck geweihter Priester, wird ihnen von der alten Heimat erzählen. Dabei den Besuchern in seinem bescheidenen Heim statt Speckbrot etwas vom Smörgåstårta reichen, einem Kuchen mit Lachs und Shrimps.
Abgesehen von den Liedern, dem Essen und dem vielen Schmelzwasser vor der Hütte, das nicht abrinnt, weil der nahe Fluss noch gefroren ist, macht er sich vor der Feier vor allem um eines Gedanken: „Hoffentlich werden alle Platz haben.“
Das hinderte Marclay kürzlich nicht daran, eine Mail an die Tiroler Tageszeitung zu schicken und Gefahr zu laufen, noch mehr Gäste empfangen zu müssen. Im Betreff stand „Herzliche Einladung“ und darunter war zu lesen: „Invigning av Prästgården Lilla Tyrolen. Einweihung des Pfarrhofs Kleines Tirol.“ Ein paar Tage später ruft man sich per WhatsApp-Telefonat mit dem Pfarrer zusammen und er erklärt: „Wir feiern hier in Vittangi die Eröffnung des kleinsten Pfarrhofs in Skandinavien, er hat 32 Quadratmeter. Benannt ist er nach Tirol, zu Ehren meiner alten Heimat. Ich lebe und schlafe dort, die Kirche liegt etwa fünf Minuten weit weg. Von hier aus betreue ich 17 Dörfer mit 1400 Gemeindemitgliedern auf einem Gebiet, das mit mehr als 6000 Quadratkilometern größer ist als das Siedlungsgebiet der Schweiz“, rechnet er vor.
Die Schweiz wählt Marclay nicht ohne Grund als Vergleich. Er ist dort geboren und begann dort sein Studium. Als Student zog es ihn nach Frankreich und Innsbruck, wo er schließlich 2001 zum Priester geweiht wurde. Danach trat er eine Stelle als Krankenhausseelsorger an der Uni-Klinik an. 2011 wechselte er dann zur Schwedischen Kirche. „Seit 1. Februar bin ich in Vittangi, aber wir machen erst jetzt das Fest, weil es bei uns im Winter mit den Polarstürmen minus 40, 50 Grad haben kann.“
Minus 50 Grad Celsius, Überschwemmungen vor der Hütte, ein riesiges Gebiet, wo der nächste Nachbar oft mehrere Kilometer entfernt wohnt, kurz gesagt: Das hört sich nicht nach einer Gegend an, in die man ganz freiwillig zieht. Hat sich der Priester mit seinen Ansichten vielleicht zu weit über die Kanzel gelehnt?
Um mehr über Marclay zu erfahren, fragt man am besten alte Bekannte und bald darauf flattert eine E-Mail, diesmal geschrieben von ehemaligen Kollegen der Innsbrucker Klinikseelsorger, herein – der Titel: „Jean-Claude, ein Wanderer zwischen den Welten.“ In dem Text stehen berührende Worte und auch Andeutungen, dass er den Glauben nicht ganz so wie andere verbreitet hat. „Seine unkonventionelle, humorvolle Art war im Rahmen der von ihm gefeierten Gottesdienste spürbar.“ Oder: „Seine Sichtweisen sind schwer zu fassen und festzumachen und doch kann er einem seine Grundüberzeugungen ganz unverblümt darlegen.“ Und: „Ein bunter Vogel in der Klinikseelsorge. Ein Geist, der immer auf der Suche nach Neuem war.“
Marclay suchte also eine neue Aufgabe. Außerdem sei er seit 20 Jahren immer wieder ins nördliche Schweden gereist. „Von der Gegend sagt man: Entweder man kommt immer wieder oder nie wieder. Bei mir war’s immer wieder.“ Und als sich die Möglichkeit ergab, ist er ganz geblieben. Die Polarlichter, die über seine Hütte hinwegziehen, sind eine der vielen Naturschönheiten, die ihn fasziniert haben. Die Dunkelheit im Winter macht ihm nichts aus, die ständige Helligkeit im Sommer jedoch schon. „Man ist immer in einem halbwachen Zustand. Deshalb reise ich im Sommer für eine Woche nach Südschweden, damit ich schlafen kann“, lacht er kurz auf.
Schlaflose Nächte erlebte er auch als Klinikseelsorger. Er erinnert sich, wie er in den Nachtdiensten mit den Krankenschwestern gekocht hat. Seine ehemaligen Kollegen erinnern sich vor allem an eines: „Er hat geholfen, wo immer es ihm möglich war“, heißt es über Marclay. Er engagierte sich beim Roten Kreuz, er war Teil des Kriseninterventionsteams und monatelang bei der Tsunamikatastrophe in Thailand im Einsatz.
Den Beschützerinstinkt lebt er heute in Lappland zum Beispiel für das indigene Volk der Samen aus. Ihr „Pech“ ist es, dass sie keinen Besitz kennen, aber auf Bodenschätzen leben. „Unternehmen wollen das Eisenerz abgraben. Gegen diese Mineral-Mafia wird oft demonstriert. Und da gehe ich mit, mit Priesterkragen, weil ich als Teil der Kirche Stellung beziehen will“, sagt er. Manche Samen kommen zu ihm in die Kirche, einige sind in Freikirchen, andere wie ein befreundeter Schamane beten Naturgottheiten und die „Mutter Erde“ an. Für Marclay kein Problem, weil „es heißt bei ihnen anders, aber im Grunde glauben wir an das Gleiche“.
Heute beim Fest wird er den Samen von den Tirolern erzählen und dass man sich in manchen Dingen ähnlich sei: die Naturverbundenheit, dass man die Gemeinschaft hochhält, gern zusammensitzt und fröhlich ist. „Bei einem Begräbnis zum Beispiel sind die Schweden danach eher stiller, bei den Samen darf wie bei uns schon gelacht werden.“
Wie das Leben bei dem „Tiroler Pfarrer“ („So nennen sie mich“) in Lappland abläuft, kann man sich selbst ansehen. Marclay betreibt eine Instagram-Seite. Und unkonventionell, wie er ist, hat er noch eine Idee: „Ich lade alle Tiroler ein, bei uns vorbeizuschauen. Einfach eine E-Mail schreiben. Ein Kaffee steht immer bereit“, schickt er Grüße in die alte Heimat und kündigt an: „Wir werden hier im Norden heute auf Tirol anstoßen.“ Bei Kuchen mit Lachs, und wenn der (Natur-)Gott will, wird die Hütte abends vom Polarlicht erleuchtet, während die Gäste anstimmen: „Klein-Tirol is lei oans, is a Landl a kloans.“