Claudia Gamon im Interview: „Liberale Garantie gegen Rechts“
NEOS-Spitzenkandidatin Claudia Gamon sieht radikale Visionen als unabdingbar für eine Neuentwicklung der Europäischen Union.
Beobachter attestieren Ihnen, eine Nachwuchspolitikerin mit viel Potenzial zu sein. Kann eine hohe Erwartungshaltung auch eine Bürde sein?
Claudia Gamon: Das sehe ich nicht so. Ich bin zum ersten Mal Spitzenkandidatin und freue mich, wenn auch wahrgenommen wird, dass junge Frauen eine Partei im Wahlkampf anführen können und es den Willen gibt, sich mutige Forderungen anzuhören, die zu diskutieren und diese auch ernst zu nehmen – vor allem diese langfristigen Visionen, Stichwort Vereinigte Staaten von Europa. Ich bin begeistert, dass es uns gelungen ist, das als Thema zu setzen. Es wird auch von Bürgerinnen und Bürgern geschätzt, dass man das ehrlich anspricht.
Die radikale Forderung „Vereinigte Staaten von Europa“ ist den Bürgern also zumutbar?
Gamon: Unbedingt. Gerade bei der Europawahl muss jede Partei die Frage beantworten können, wo soll die EU in 20 Jahren sein? „Ein bissl mehr hier, ein bissl weniger da, und es wird schon ganz gut laufen“ – das ist keine Antwort. Wir sind ja auch nicht die Einzigen, die Vereinigte Staaten von Europa fordern, außer vielleicht in Österreich. Aber europaweit gibt es viele Regierungschefs und viele Parteien, die sich für diese Vision starkmachen. Erst wenn wir wissen, wohin der Weg geht, können wir über die Details reden.
Nervt es Sie, dass Ihr Alleinstellungsmerkmal – jung und eine Frau – 2019 noch Relevanz hat?
Gamon: Mich nervt es nicht, die Frage müssen sich die anderen Parteien stellen, die auch junge Frauen hätten aufstellen können. Aber genauso wie jung und Frau sein kein Argument ist, ist alt und Mann sein auch keines. Es scheint immer noch ein Kriterium in der Politik zu sein, aber das geht einfach nicht mehr. Die Bevölkerung ist vielfältig – und so sollte auch die Politik aussehen.
Apropos bunt: Es gibt ein Wahlplakat von Ihnen mit Trump, Orban, Kickl und anderen in Schwarz-Weiß im Hintergrund. Ist das die Entscheidungsfrage am 26. Mai, Gut gegen Böse?
Gamon: Nein, es ist die Frage zurück oder nach vorne. Es ist ja bekannt, dass Italiens Matteo Salvini mit der FPÖ, der AfD und der Partei von Le Pen an einer gemeinsamen rechten Allianz bastelt, die es in dieser Form noch nicht gegeben hat. Und die haben das Ziel, Europa in die Vergangenheit zurückzubewegen, in das Europa der Vaterländer. Ich bin dafür, das klar zu benennen, aber nicht in Angststarre zu verfallen, sondern dem etwas Optimistisches gegenüberzustellen. Das machen die Liberalen auf europäischer Ebene sehr konkret, durch die Zusammenarbeit mit Emmanuel Macron. Die große Koalition im Europaparlament wird sich mandatszahlenmäßig nicht mehr ausgehen. Und so wird die liberale Fraktion – die vermutlich drittstärkste Kraft – die Garantie dafür sein, dass es eine proeuropäische Mehrheit ohne die Rechten gibt. Es ist auch eine Garantie für einen Reformkurs, weil in dieser Fraktion alle den Willen zur Weiterentwicklung der Union in großen Schritten haben.
Sie wollen die NEOS von einem auf zwei Mandate bringen. Rechnen Sie mit Stimmen ehemaliger ÖVP-Wähler, denen die jüngste Kritik des Bundeskanzlers an der EU zu weit gegangen ist?
Gamon: Die ÖVP ist nicht erst seit letzter Woche europapolitisch von der FPÖ nicht mehr zu unterscheiden. Das hat man schon während der Ratspräsidentschaft erkennen können: Kürzung der Familienbeihilfe, Nicht-Unterstützung des UNO-Migrationspakts und Verlängerung der Grenzkontrollen. Bei der klar opportunistischen, antieuropäischen, populistischen Haltung war die ÖVP federführend beteiligt. Statt mit dem Kreuz zieht die ÖVP mit dem Schnitzel in der Hand in den Kampf gegen Brüssel! Mittlerweile ist es für jeden klar erkennbar, dass man keine proeuropäische Politik bekommt, wenn man die ÖVP wählt. Sie ist beliebig geworden.
Sie haben zuletzt die Abschaffung der Grenzkontrollen thematisiert. Ist das mehrheitsfähig?
Gamon: Die Grenzkontrollen sind nicht nur lästig, sondern für die Menschen in den betroffenen Regionen eine Katastrophe. In Salzburg hat man eine Grenze, die man rein für die PR kontrolliert und eine Show abzieht, damit die Leute im Stau stehen. Die Dörfer daneben sind mit unfassbar viel Verkehr konfrontiert, mit schlechter Luft und Lärm. Wozu? Dafür, dass man vereinzelt ein paar Menschen aufgreift? Das wollen wir demaskieren und aufzeigen: Das hat nichts mit Sicherheit zu tun, davon hat kein Mensch etwas.
Das Gespräch führte Carmen Baumgartner-Pötz