Kufsteiner "Ferienkinder" wurden nach Krieg aufgepeppelt: "Das Leben wurde wieder lebenswert"
An die 50 Kufsteiner Kinder wurden in der Nachkriegszeit zu einem Erholungsaufenthalt ins schweizerische Frauenfeld geschickt. 19 der „Ferienkinder“ trafen sich nun, um ihre Erfahrungen auszutauschen.
Von Jasmine Hrdina
Kufstein –Handgeschriebene Briefe haben heute Seltenheitswert, allein deswegen sind jene von Wolfgang Krismer schon besonders. Für ihn hat die Mappe voller Umschläge und Zettel aber eine spezielle Bedeutung: Es sind historische Aufzeichnungen, die jene Zeit unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dokumentieren, die sein und das Leben Dutzender Kufsteiner für immer veränderte.
19 der ehemaligen „Kufsteiner Ferienkinder“ trafen sich am Donnerstagabend zum gemeinsamen Essen in der Festungsstadt, tauschten Erfahrungen aus und blickten 70 Jahre zurück auf ein Sozialprojekt, das wohl heute in dieser Form nicht mehr realisierbar wäre.Von 1947 bis 1949 wurden jeden Sommer Kinder im Alter zwischen sieben und zehn Jahren zu einem Erholungsaufenthalt ins schweizerische Frauenfeld geschickt. Untergebracht bei Pflegefamilien, wurden sie dort wieder aufgepäppelt, während zu Hause in Tirol der Wiederaufbau startete. „Die Gemeinde selbst war damals nicht in der Lage, den eigenen Leuten in Kufstein zu helfen – es war eine unglaublich harte und bewegende Zeit“, meinte Bürgermeister Martin Krumschnabel bei dem Ehemaligen-Treffen.
„Ich war damals zehn Jahre alt und wog nur 21 Kilogramm“, schildert Edeltrude Braunegger. Die heute 80-Jährige wurde 1948 nach eigenen Aussagen zu einer besonders wohlhabenden Familie geschickt. „Das gute Essen – mein Gott, ich sehe heute noch die vielen Äpfel und Regale voller Mehl und Zucker vor mir“, schwärmt die Pensionistin. Eine Scheibe Brot, hauchdünn mit etwas Tomatenmark beschmiert – damals ein Luxusgut. Viermal durfte Braunegger für jeweils ein paar Wochen mit dem Zug nach Frauenfeld reisen. „Als ich wiederkam, hatte ich einige Kilo mehr drauf – meine Mutter hätte mich fast nicht wiedererkannt.“
Auch Wolfgang Krismer machte ähnliche Erfahrungen. Bis zum Tod seiner Gasteltern stand Krismer bzw. seine Mutter in Kontakt mit der Familie. „Wenn ich die Briefe heute durchlese, kommen alte Erinnerungen hoch“, so der heute 79-Jährige. Etwa jene an eine schmerzende Lektion beim Eier-Einsammeln. „Ich habe die Legehenne von ihrem Brutplatz verscheucht“, erzählt der Kufsteiner. Dafür wurde der damals 7-Jährige von dem gefiederten Tier quer über den Bauernhof gejagt.
Und noch etwas liest sich aus dem historischen Schriftverkehr: Auch Österreichs Nachbarn im Westen – obgleich nicht im selben Ausmaß vom Krieg betroffen – lebten nicht im Schlaraffenland. „Es war nicht nur ein Frohlocken – auch in der Schweiz gab es Essensmarken“, meinte Hans Brunschweiler, der extra aus Frauenfeld angereist war, um Grüße des dortigen Stadtrats zu übermitteln. Begonnen hatte alles 1946 mit einem Schreiben des Tiroler Bauernverbands an den Schweizer Städteverband, in dem um materielle Unterstützung gebeten wurde. Gleichzeitig wandte sich auch Kufsteins damaliger Bürgermeister Thomas Sappl an seine Amtskollegen in der Schweiz. In den Briefen, die der TT vorliegen, ist die Verzweiflung deutlich spürbar: „Die Ernährungs- und Bekleidungslage wird bei uns von Tag zu Tag schlechter und die Bevölkerung weiß von einem Tag auf den anderen nicht mehr, woher sie das Brot nehmen soll. (...) Es ist für uns schon bald die Grenze gekommen, wo das Leben aufhört, lebenswert zu sein.“
Die Reaktion der Schweizer: Die Bevölkerung spendete ganze Züge voll Medikamente, Nahrung und Haushaltsgeräte. „Losgefahren ist auch einmal ein Zug mit zwei Waggons voll Erdäpfel. Als er dann in Kufstein ankam, war jedoch nur noch ein Waggon dran“, lachte Brunschweiler.
Der Nachwuchs wurde damals aber nicht nur körperlich wieder auf Vordermann gebracht – es gab auch Balsam für die Seele. Bootsausflüge, Fußballspiele, Fuchsbauten erkunden – Krismer erinnert sich an ein buntes Freizeitprogramm, das es so in Kufstein nicht gegeben hätte. Auch Braunegger entdeckte eine neue Leidenschaft für sich, war ihre „Tante“ (wie sie ihre Pflegemutter liebevoll nannte) doch eine begnadete Handarbeitslehrerin. „Ihre gestickten Lampenschirme waren ein Traum – ich selbst war aber nie so gut.“
Die mit den Ferienkindern eingegangene Städtepatenschaft mündete 1988 in eine Städtepartnerschaft, die noch heute andauert. „Wir wollen nicht, dass so etwas noch einmal passiert“, betonte BM Krumschnabel bei den Feierlichkeiten, „aber wenn, dann ist es gut zu wissen, einen starken Partner wie Frauenfeld an der Seite zu haben.“