Ein „Roman mit Anmerkungen“: „Flammenwand.“ von Marlene Streeruwitz
Wien (APA) - Marlene Streeruwitz hat von 19. März bis 9. Oktober 2018 an ihrem Roman „Flammenwand.“ geschrieben. In Stockholm, Wien, Berlin ...
Wien (APA) - Marlene Streeruwitz hat von 19. März bis 9. Oktober 2018 an ihrem Roman „Flammenwand.“ geschrieben. In Stockholm, Wien, Berlin oder Düsseldorf. Am 22. April arbeitete sie im Zug nach Liechtenstein daran, am 12. Juni auf der Reise von Wien nach Paris. Denn da ist sie nicht nach Berlin geflogen. Ob das relevant ist? Wichtig ist es ihr jedenfalls, denn alle diese Informationen enthält das Buch.
Streeruwitz hat sich dazu entschlossen, Details zum Entstehen in den Text einzuarbeiten, denn laut Untertitel handelt es sich um einen „Roman mit Anmerkungen“. Gegliedert ist er nicht nach inhaltlichen Gesichtspunkten, sondern nach seinen Entstehungsdaten. Obwohl er keineswegs als Tagebuch fungiert. Am Ende halten 83 mit den Kapitelüberschriften korrespondierende Fußnoten Ereignisse der österreichischen Innenpolitik fest - eine über 40-seitige Chronologie des Schreckens von der BVT-Affäre über Verschärfungen der Asylgesetze und Angriffe gegen den ORF bis zur Kürzung von Sozialleistungen.
Wie das alles mit der von Streeruwitz erzählten Geschichte zusammenhängt, eine Art langer Monolog der 52-jährigen Adele Süttner, die sich ein Sabbatical als Deutschlektorin genommen hat und in Stockholm über die von ihrem Lebensgefährten erfahrenen Enttäuschungen räsoniert, ist schwer zu sagen. „Die politischen Anmerkungen zu den Datumsangaben verankern diesen Text in der jeweiligen Gegenwart des Schreibens und verhindern damit jede Überzeitlichkeit“, heißt es im Klappentext. Das erstaunt. Denn einerseits streben die meisten Texte doch eher nach über die reine Gegenwart hinausreichender Halbwertszeit, anderseits ist nichts in „Flammenwand.“ - außer gelegentlichen Bemerkungen wie „Kinderkanzler“ oder „Bundeskanzlerbub“ - ein konkret verorteter Zeitkommentar, sondern alles eine nach Allgemeingültigkeit strebende Gesellschaftskritik.
Adele hadert mit ihrem Schicksal, das sie stellvertretend für ihr Geschlecht, ihr Alter, ihre soziale Stellung erleidet. Sie hat sich mit ihrem Geliebten Gustav Jacobsen, ein karrierebewusster deutscher Korruptionsbekämpfer und Steuerfahnder in verantwortungsvoller und international relevanter Position, auf ein künftiges gemeinsames Leben eingestellt. Doch sein Satz „Du weißt, dass wir da nicht mehr herauskommen, wo wir jetzt sind. Wir zwei.“ bekommt schlagartig den Charakter einer Drohung, ein Gefühl von Gefangenschaft, als sie glaubt, Beweise dafür zu haben, von ihm betrogen zu werden. Dass sie damit ein typisches Frauenschicksal erleiden könnte, will sie mit aller Gewalt nicht wahrhaben: „Sie war hintergangen worden. Von Mann zu Mann. Es war Gewalt unter Männern, der sie ausgesetzt war“, beharrt sie. „Ihr Geschlecht hatte nichts damit zu tun, dass Gustav ihr nichts als Lügen erzählt hatte.“
Der lange, durch extrem kurze, abgehackte Sätze atemlos wirkende Gedankenfluss führt immer wieder zurück in die Kindheit, zum kriegsversehrten Vater und der „perfekten Nazifamilie in der Nachkriegszeit“, zu den Züchtigungen, denen der Bruder ausgesetzt war. Vor allem kreisen sie aber um ihre Beziehung zu dem älteren Gustav, in der sie eine Art Inzest sieht, obwohl ihr Partner impotent ist. Von ihm regelmäßig mit der Hand befriedigt zu werden empfindet sie als Lust und Demütigung zugleich. Wut und Wehleidigkeit bestimmen den Text, in dem Streeruwitz viele Irritationen und Variationen, Fehlleistungen und Stolperstellen eingebaut hat. Wenn im letzten Drittel ein Hermelin eine Hauptrolle übernimmt und Adele sich mittels eines bunten Rocks freiwillig in eine noch größere Außenseiterrolle begibt, offenbar als Roma-Frau wahrgenommen, im Supermarkt weggesperrt und schließlich mit einem Taser verletzt wird, dann driftet die Geschichte in Richtung eines surrealen Albtraums.
Die titelgebende Flammenwand stammt aus Dantes „Göttlicher Komödie“, durch sie muss man hindurch, will man ins Paradies. Wo Adele am Ende landet, ist dagegen ungewiss. Immerhin gelingt es ihr im Supermarkt-Hinterzimmer, weggesperrt und getasert, trotz starker Schmerzen an ihr Handy zu gelangen. „‘Wollen Sie wirklich den Notruf bedienen?‘, stand auf dem Display. ‚Ja.‘, sagte sie laut. ‚Ich will.‘“
(S E R V I C E - Marlene Streeruwitz: „Flammenwand. Roman mit Anmerkungen.“, S. Fischer Verlag, 414 Seiten, 22,70 Euro)