Fischler erwartet No-Deal-Brexit am 31. Oktober
Der Präsident des Europäischen Forums Alpbach und Ex-EU-Kommissar Franz Fischler erwartet, dass Großbritannien am 31. Oktober ungeregelt aus der EU ausscheidet. „Ich sehe nichts am Horizont, das diesen Termin bzw. die Art des Austritts noch verändern könnte“, sagte Fischler zur APA. „Das ist eine dermaßen verfahrene Situation, wie es sie in Europa schon Jahrzehnte nicht gegeben hat.“
Das Hauptproblem, dass es so weit gekommen ist, liegt aus Sicht Fischlers „schon bei den Briten selber, das ist keine Frage“. Man müsse auch sagen, dass das britische Regierungssystem nicht mehr funktioniere: Dieses System sei ein „sehr mehrheitsfreundliches System, in dem die Partei, die die meisten Stimmen bekommt, die Regierung stellt, aber es immer auch eine starke Opposition gibt“. Und zurzeit gebe es beides nicht. „Und wenn Sie dann noch das Ergebnis der Europawahlen dazunehmen, wo Herr Farage der große Sieger ist, dann sehen Sie, wohin man da gekommen ist.“ Die erst Anfang des Jahres aus der Taufe gehobene Brexit Party von Nigel Farage hatte bei dem Urnengang zum EU-Parlament Ende Mai 29 Sitze errungen, die größte britische Oppositionskraft Labour lediglich zehn und die regierenden Tories gar nur vier Mandate.
Die EU-27 habe sich gegenüber Großbritannien „bis jetzt sehr fair und vernünftig verhalten“, findet Fischler, „und nachdem es hier ja um eine außenpolitische Frage geht, muss die EU-27 in dieser Sache auch einig sein. Das ist bisher ohne größere Schwierigkeiten möglich gewesen. Also da kann man der EU keinen Vorwurf machen.“
Hinsichtlich der möglichen Folgen eines ungeregelten Brexit für die europäische Landwirtschaft hob der frühere EU-Agrarkommissar und Ex-ÖVP-Landwirtschaftsminister die Rinderproduktion als größten Problembereich hervor. „Und zwar deshalb, weil Großbritannien ein großer Nettoimporteur von Rindfleisch ist, wobei der Hauptlieferant traditionellerweise Irland ist. Die Iren produzieren zehnmal so viel Rindfleisch, wie sie selbst konsumieren“ und müssen daher 90 Prozent der Produktion außer Landes bringen. „Wenn das mit England nicht mehr funktionieren sollte, dann drückt dieses Fleisch natürlich auf den kontinentalen Markt. Dieser Druck wird dann noch zusätzlich verschärft durch die Debatte über das Mercosur-Abkommen, wo es ja unter anderem auch um Rindfleisch geht, und neuerdings auch noch durch die amerikanischen Wünsche nach mehr Fleischlieferungen aus den USA.“
Umgekehrt gebe es bei britischen Bauern „die große Furcht, dass die britische Regierung sie nicht so gut behandelt wie Europa sie behandelt hat. Das heißt, dass sie ziemliche Kürzungen bei den Förderungen hinnehmen müssten.“
Längerfristig wird es für die Europäische Union nach Einschätzung Fischlers „einen signifikanten Unterschied machen, dass die Briten nicht mehr dabei sind, und zwar vor allem, wenn es um Fragen von wirtschaftlichen Reformen, wenn es um Fragen des Freihandels, wenn es um Fragen einer liberalen Wirtschaft geht. Denn die Briten waren immer große Vorkämpfer für Liberalisierungen in der Wirtschaft und im Handel.“ Diese Stimme sei dann „nicht mehr in dem Maße vorhanden“.
Zudem hätten die Briten generell „eine andere Vorstellung von der Rolle des Staates“ als die Kontinentaleuropäer. „Wir messen dem Staat ja eine viel größere Bedeutung bei, als das die Briten üblicherweise tun. Das kann schon in einem gewissen Ausmaß andere Kompromisse nach sich ziehen und eine stärker staatsorientierte Politik forcieren.“ Im Bereich der Steuerpolitik wiederum, „in dem ja nach wie vor einstimmig entschieden werden muss“, hätten sich die Briten „immer gegen jede europäische Regelung gewehrt“: „Das könnte ebenfalls anders werden. Die Chancen in gewissen Bereichen des Steuerrechts - denken Sie etwa an eine CO2-Steuer -, europäische Regelungen zustande zu bringen, könnte durch den Austritt Großbritanniens steigen.“
Auf die EU und die ab November amtierende neue Kommission kommen nach Ansicht Fischlers durchaus große Herausforderungen zu - etwa die Festlegung der künftigen Finanzierung der Gemeinschaft. „Das wird die erste Nagelprobe sein, denn die ‚finanzielle Vorausschau‘ muss ja am Ende des Tages einstimmig von den Regierungschefs beschlossen werden.“ Eine weitere „Baustelle“ sei der Umgang mit der Konjunkturflaute, „und die nächste Frage wird sein, was ist so quasi das Regierungsprogramm der neuen Kommission. Auch da sind die Erwartungen sehr hoch gesteckt. Da ist einiges sehr rasch auf den Weg zu bringen.“
Eine der vordringlichsten Aufgaben wäre für den früheren Kommissar nach dem jüngsten Gezerre um EU-Spitzenposten aber auch eine Änderung des Wahlrechts, denn das derzeitige europäische Wahlsystem sei „völlig unzureichend und eigentlich überhaupt nicht europäisch“. So werde in jedem Mitgliedsstaat „nach nationalen Regeln gewählt“, was etwa zu unterschiedlichen Bestimmungen beim Wahlalter führe. Auch die Listen würden unterschiedlich erstellt.
Das „größte Dilemma“ bestehe jedoch darin, „dass auf der einen Seite im Lissabon-Vertrag ein Satz aufgenommen wurde, dass bei der Bestellung des Kommissionspräsidenten das Wahlergebnis der Europawahl zu berücksichtigen ist, aber kein Wort darüber, was das heißt und wie das gehen soll. Und da hat das Parlament - eigentlich eigenmächtig - mit dem Spitzenkandidaten-Modell eine Interpretation dieses Satzes vorgenommen.“ Auf der anderen Seite stehe aber auch im Lissabon-Vertrag, „dass die Regierungschefs das Recht haben, den Kommissionspräsidenten vorzuschlagen. Das ist ein großer Widerspruch.“
Zur personellen Aufstellung der neuen Kommission hielt Fischler fest, er gehe davon aus, dass der von Österreich nominierte Johannes Hahn beim Hearing im EU-Parlament „keine Probleme haben wird, weil er ein gutes Verhältnis zum Europäischen Parlament hat, aber dass es einige Kandidaten geben wird, die das Parlament im Hearing ‚abschießen‘ wird“. Hahn sei „in diesem neuen Team einer der wenigen, der zum dritten Mal nominiert wurde, und wenn er aus Sicht des Parlaments zweimal gepasst hat, welche Gründe liegen dann vor, dass er ein drittes Mal nicht passen würde?“
Hahn selbst habe gesagt, er wünsche sich einen außenpolitischen Bereich. „Ich könnte mir vorstellen, dass er im Wesentlichen den Bereich, den er jetzt hat, noch einmal bekommt“, so Fischler - also Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen. „Eine andere Möglichkeit, die ich mir persönlich vorstellen könnte, ist, dass er allenfalls auch für die Entwicklungszusammenarbeitspolitik zuständig wird. Jedenfalls glaube ich schon, es wird im außenpolitischen Bereich sein.“
Das diesjährige Europäische Forum Alpbach geht von 14. bis 30. August über die Bühne. Das Generalthema „Freiheit und Sicherheit“ steht dabei im Mittelpunkt. Insgesamt werden rund 5.200 Teilnehmer erwartet, darunter auch heuer wieder prominente Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Feierlich eröffnet wird der Kongress, der bereits seit 1945 stattfindet, kommenden Sonntag.