Klangspuren Schwaz

Visionen: Neue Musik macht sie hörbar

Das Tiroler Symphonieorchester Innsbruck unter Lothar Zagrosek interpretiert musikalische Beschreibungen einer Welt voller Risse bei den Klangspuren 2019.
© Hauser

Über einen Zustandsbefund der Welt hinaus setzt man bei den Klangspuren Schwaz auf das Prinzip der Hoffnung.

Von Markus Hauser

Schwaz –Ob Musik über den reinen Zustandsbefund hinaus auch Lösungen für komplexe gesellschafts- bzw. sozialpolitische Probleme anbieten kann, das sei dahingestellt.

Dass Musik aber über Emotionen Menschen erreicht, das zeigte der Eröffnungsabend der Klangspuren Schwaz 2019 unter dem Motto „Risse“ am Freitagabend.

Die Rechnung „Bill“ wurde gleich zu Beginn um 18.30 Uhr in Form einer installativen Raum-Klang-Oper mit dem Übertitel „Explosive Expansion“ von Jorge Sánchez-Chiong und Thomas J. Jelinek präsentiert.

Und diese Rechnung könnte auch der reichste Bill (Gates) der Welt nicht bezahlen. Gut zwanzig Minuten prasseln im abgedunkelten Raum auf Videoleinwände projizierte Daten, eine exponentielle Explosion von Wachstumszahlen wie Ressourcenverbrauch und Rüstungswahn etc. auf die Zuseher ein.

Jorge Sánchez-Chiong an den Turntables, eine ausgetüftelte Klangkulisse sukzessive steigernd, dazu der gellende Sopran Kaoka Amanos versinnbildlichen eine offenen Auges auf den Abgrund zusteuernde Menschheit.

Wie gut tut da der musikalische Gegenentwurf eines Mark Andre, des diesjährigen Artist in Residence, der mit „woher…wohin“, 7 Miniaturen für Orchester (2015–2017), auf das Prinzip Hoffnung setzt. Religiös motiviert, vertraut er offensichtlich auf die Kraft der inneren Ruhe.

Mit einem formidablen Tiroler Symphonieorchester Innsbruck unter Lothar Zagrosek entdeckt man in Andres Musik eine ungemein facettenreiche Zartheit, in der er auf höchst bemerkenswert tonmalerischen Wegen der Natur ihre Geheimnisse abzulauschen versucht. Auf eine Passage aus dem Johannesevangelium Bezug nehmend, die da lautet: „Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt“, bedient er ungemein fein strukturiert einen Orchesterapparat, die Finessen zartester Winde bis hin zum Sturm beschreibend.

Olga Neuwirths vorangestelltes „anaptyxis“ für Orchester (2000) ist definitiv keiner Botschaft verpflichtet, sondern zeigt sich ausschließlich als ein hochkomplexes Spiel mit Klangbildern und Klangfarben, ein facettenreiches pointilistisches Klanggebilde.

Gesellschaftliche Fragestellungen, das politische Statement: Beides geht einher mit Luigi Nonos Werk. Sein „Canti di vita e d’amore. Sul ponte di Hiroshima“ für Sopran-, Tenorsolo und Orchester (1962) mit den Vokalisten Anu Komsi (Sopran) und Niclas Oettermann (Tenor) als exzellente Interpreten erklärt sich durch den Titel von selbst.

Nono durchdachte wie kaum ein Zweiter die lyrischen, oftmals erschütternden Energien von Musik im Kontext von Literatur. Er zeigt darin eine (musikalische) Welt voller Widersprüche, Brüche und Sprünge, beschreibt sie mit aller Kraft einer sängerischen Poesie.

Eine durch den Nationalsozialismus entstandene Leere im kulturellen Gedächtnis zu füllen, versucht Claus-Steffen Mahnkopf mit „void – kol ischia asirit“ für großes Orchester (2010–2012).

Mit marginalen Klangmitteln gestaltet, voller beseelender Ruhe, ist es ein sinnliches Erlebnis, das tief nach Innen trifft.