Großbritannien

Britisches Unterhaus wählte Lindsay Hoyle zum neuen „Speaker“

Lindsay Hoyle war die vergangenen zehn Jahre der Stellvertreter von John Bercow. Nun trat er dessen Nachfolge an.
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Es sind große Fußstapfen, in die Lindsay Hoyle tritt. Ex-Parlamentspräsident John Bercow hatte das vergangene Jahrzehnt nicht nur mit seinen markanten Order-Rufen geprägt. Hoyle dürfte versuchen, weniger anzuecken als sein Vorgänger.

London – Die Abgeordneten im britischen Unterhaus haben am Montagabend den bisherigen stellvertretenden Parlamentspräsidenten Lindsay Hoyle zum neuen „Speaker“ gewählt. Der 62-Jährige setzte sich in der vierten Wahlrunde gegen seinen Konkurrenten Chris Bryant durch. Hoyle, der als Favorit galt, tritt nun die Nachfolge von John Bercow an, der nach zehn Jahren als Parlamentspräsident zurückgetreten war.

Hoyle konnte in der vierten Wahlrunde die Stimmen von 325 der 540 Abgeordneten auf sich vereinen und setzte sich damit gegen insgesamt sechs weitere Kandidaten durch. Bereits in den ersten drei Wahlrunden hatte Hoyle die meisten Stimmen erhalten. Bis zur vierten und letzten Wahlrunde verfehlte er jedoch die notwendige absolute Mehrheit. Im letzten Wahlgang setzte er sich dann mit 60 Prozent der Stimmen gegen den Labour-Politiker Bryant durch.

„Vergiftete Stimmung beruhigen“

Hoyle sitzt seit 22 Jahren für die oppositionelle Labour-Partei im britischen Parlament, zehn Jahre lang amtierte er als Stellvertreter Bercows. Nach seiner Wahl zum 158. „Speaker“ muss er seine Parteimitgliedschaft ruhen lassen. Gegenüber den Abgeordneten sprach Hoyle nach seiner Wahl von bevorstehenden „Herausforderungen für mich und die Kammer“. Der Parlamentspräsident hat eine zentrale Rolle, da er nicht nur den Abgeordneten das Wort erteilt und entzieht, sondern auch über die Zulässigkeit von Anträgen entscheidet.

Der Zeitung Sunday Times hatte Hoyle vor der Wahl gesagt, er sehe die Aufgabe des Amtes vor allem in der Rolle eines „Schiedsrichters“. Er wolle die „vergiftete“ Stimmung im Parlament beruhigen - vor allem während der nächsten Brexit-Debatten. Die „gegenseitigen Beschimpfungen“ der Abgeordneten müssten ein Ende haben, sagte Hoyle der Zeitung. „Ich denke, das müssen wir schnell einstellen und dafür Sorge tragen, dass dies ein ruhigerer Ort wird.“

Der neue "Speaker of the House of Commons" nahm auf seinem Stuhl Platz.
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Premierminister Boris Johnson gratulierte Hoyle zur Wahl und sagte: „Im Laufe der Jahre habe ich beobachtet, dass Sie viele gute Eigenschaften besitzen.“ Hoyle besitze eine „unverkennbare Freundlichkeit und Vernunft“, fügte der Regierungschef hinzu. Johnson spielte damit wohl auch auf den bisherigen Parlamentspräsidenten Bercow an, dem Brexit-Hardliner zu großen Aktivismus und Parteilichkeit vorgeworfen hatten.

„Widerwillig“ zum Sessel gezerrt

Insgesamt waren vier Frauen und drei Männer zur Wahl um die Nachfolge Bercows angetreten, darunter auch politische Schwergewichte wie die dienstälteste weibliche Abgeordnete im britischen Parlament, die Labour-Abgeordnete Harriet Harman.

Einer alten Tradition folgend, nahm Hoyle seine Wahl nur widerwillig an. Mehrere Abgeordnete mussten ihn durch die Abgeordnetenkammer zum Sessel des Vorsitzenden zerren. Dieses Schauspiel erinnert daran, dass das Vorsitzamt in der Zeit der absoluten Monarchie alles andere als erstrebenswert war. Damals zogen sich die Unterhausvorsitzenden immer wieder den Zorn des Monarchen zu, wenn sie diesen von Beschlüssen der aufmüpfigen Volksvertretung informierten. Sechs Unterhaussprecher wurden sogar hingerichtet, doch stand entgegen einer landläufigen Annahme keine Exekution in Zusammenhang mit Parlamentsbeschlüssen.

Die Wahl des Parlamentspräsidenten in Großbritannien erfolgt nach jeder Parlamentswahl oder nach dem Ausscheiden des Amtsträgers. Mit seinem eigenwilligen Stil stand Hoyles Vorgänger Bercow mehr als drei Jahre lang im Zentrum der äußerst emotional geführten Parlamentsdebatten rund um den Brexit. Seine markanten „Order“-Rufe, mit denen er die Abgeordneten zur Ruhe ermahnte, hallten mehr als 14.000 Mal durch das Londoner Unterhaus.

Alte Zöpfe abgeschnitten

Bercow galt als großer Reformer, der den Hinterbänklern viel öfter das Wort erteilte als bis dahin üblich. Auch die Zahl der Dringlichkeitsdebatten nahm erheblich zu unter Bercow - Regierungsmitglieder mussten viel öfter Rede und Antwort stehen, als ihnen lieb war. Alte Zöpfe schnitt er ab. Beispielsweise verzichtete er auf das traditionelle Gewand des Speakers. Stattdessen trug er Anzug, oft schrille Krawatten und eine schlichte Robe. Perücken waren bereits unter seinen Vorgängern aus der Mode gekommen.

Bereits in der Nacht auf Mittwoch soll das Parlament aufgelöst werden für die bevorstehende Neuwahl am 12. Dezember. Dann muss auch der „Speaker“ im Amt bestätigt werden; nach den Parlamentswahlen 2015 und 2017 geschah dies jeweils ohne Wahl.

Traditionell kann sich ein amtierender Parlamentspräsident auch seines Abgeordnetensitzes sicher sein, weil die Parlamentsparteien in seinem Wahlkreis keine Gegenkandidaten aufstellen. Hoyle vertritt seit dem Jahr 1997 den nordenglischen Wahlkreis Chorley, der bis dahin dem landesweiten Trend folgend abwechselnd Tory- und Labour-Mehrheiten hatte. Bei den Wahlen 2010, 2015 und 2017 konnte Hoyle seinen Sitz verteidigen, obwohl die Tories landesweit stärkste Kraft wurden. Beim EU-Referendum 2016 stimmte Chorley mit über 56 Prozent für den Austritt aus der Europäischen Union.. (APA, AFP, dpa)

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