Unter der Mauer hindurch in die Freiheit: Ein Tunnelgräber erzählt
Nach dem Bau der Berliner Mauer im Jahr 1961 wurde auf verschiedene Weise probiert, sie zu überwinden – oder zu untergraben. Der heute 80 Jahre alte Boris Franzke erzählt von den lebensgefährlichen Aktionen gemeinsam mit seinem Bruder.
Von David Courbet/AFP
Berlin – Der Kalte Krieg hat sich tief ins Antlitz Berlins eingegraben. Mauer, Stacheldraht, Soldaten mit Schießbefehl kündeten für jeden sichtbar vom Leid der geteilten Stadt. Menschliche Dramen spielten sich in den Mauer-Jahren auch im Verborgen ab, tief in der Erde, den Blicken entzogen: Kaum war die Mauer 1961 gebaut, nahmen Fluchthelfer ihre Arbeit auf. Dutzende Tunnel gruben sie unter der Mauer, um Menschen aus der DDR zu holen – ein lebensgefährliches Geschäft, das nur in Ausnahmefällen zum Erfolg führte.
Einer der Tunnelgräber war Boris Franzke. „Wir haben uns entschlossen, das lassen wir uns nicht gefallen!“, erinnert sich der heute 80 Jahre alte Berliner im Gespräch mit AFP. „Wir wollten mit unserer Familie weiterhin zusammenleben können. Was irgendwelche Politiker da ausbaldowert haben, mit Grenzen und Schießbefehl und so, interessierte uns gar nicht.“
Eine persönliche Tragödie
Der Bau der Mauer im August 1961 war für Franzke eine ganz persönliche Tragödie. Freunde und Familienangehörige waren plötzlich abgeschnitten. Mit seinem Bruder Eduard fasste er damals den Beschluss, einen Tunnel zu bauen. Denn auch Eduards Frau und seine zwei Kinder lebten auf der DDR-Seite.
„Uns fehlte alles!“, berichtet Boris Franzke. „Es war notwendig, egal was es kostet, sie zurückzuholen.“ Der erste Versuch schlug dramatisch fehl – die DDR-Behörden hatten Verdacht geschöpft, Franzkes Angehörige kamen ins Gefängnis, berichtet er 30 Jahre nach dem Mauerfall mit Tränen in den Augen.
„Wir haben politisch gedacht“
Die Brüder ließen aber nicht ab: In den ersten drei Jahren nach dem Mauerbau gruben sie sieben Tunnel. In einer Bretterbude in Mauernähe buddelten sie los. Durch zwei der Tunnel konnten tatsächlich Menschen aus der DDR nach West-Berlin fliehen, Franzke schätzt ihre Zahl auf 26 bis 28.
Für Franzke wurde der Tunnelbau zur politischen Mission. „Jeder, den wir rüberholten, war eine Schwächung der so genannten DDR“, sagt er. „Wir haben schon politisch gedacht.“
Knapp dem Tod entronnen
Unauslöschlich im Gedächtnis geblieben ist Franzke der Sommer 1962, in dem um ein Haar sein Leben geendet hätte. Fünf Wochen grub er mit seinem Bruder einen Tunnel durch den sandigen Boden nach Brandenburg, 80 Zentimeter hoch, 80 Meter lang. Auf der anderen Seite sollten 13 DDR-Bewohner warten, so war es vereinbart.
Aber auch dieser Plan flog auf. Die Stasi erwartete die Tunnelgräber. Den ersten, der den Tunnel verließ, nahm sie fest – Harry Seidel war sein Name, er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und später von der Bundesrepublik freigekauft.
Was Franzke erst später erfuhr: Die Stasi wollte den Tunnel in die Luft sprengen – und nahm dabei auch den Tod der Tunnelgräber in Kauf. Der Sprengsatz ging aber nicht hoch, weil der Zünder durchschnitten war.
Historiker vermuten heute, dass Stasi-Oberstleutnant Richard Schmeing durch den Sabotageakt die Tunnelgräber rettete. Schmeing war wegen seiner kommunistischen Überzeugungen zwei Mal in Konzentrationslagern der Nazis interniert – möglicherweise hatten ihn humanitäre Beweggründe getrieben.
„Für mich ist dieser Mann ein Held, ohne Frage“, sagt Franzke heute. „Denn wenn sie ihn erwischt hätten, wäre ja mit ihm ein Ende gewesen.“
Etwa 400 Menschen flohen insgesamt durch Tunnel
Der Berliner Historiker Sven Felix Kellerhoff, Mitautor eines Buchs über die Fluchttunnel, würdigt den Einsatz der Fluchthelfer. „Boris Franzke war auf seine Art gewiss ein Widerstandskämpfer gegen den Unrechtsstaat DDR“, sagt er. „Wir reden hier ja über absolut altruistische Fluchthilfe, bei der es niemals um Honorar ging.“
Historiker schätzen heute, dass zwischen 1961 und 1989 etwa 75 Tunnel unter der Mauer gegraben wurden. Nur 19 führten in die Freiheit: Etwa 400 Menschen konnten so aus der DDR fliehen.