Frankreichs Präsident Macron bescheinigt NATO den „Hirntod“

Der französische Präsident Emmanuel Macron bewertet den Zustand der NATO äußerst kritisch und stellt die Bündnis-Loyalität der USA infrage. „Was wir derzeit erleben, ist der Hirntod der NATO“, sagte Macron in einem am Donnerstag veröffentlichten Interview der britischen Wochenzeitung „The Economist“.

„Wir sind Zeugen eines Angriffs eines anderen NATO-Partners, der Türkei, ohne Abstimmung, in einer Region, in der unsere Interessen auf dem Spiel stehen“, sagte Macron zur türkischen Militäroffensive in Nordsyrien, die von NATO-Verbündeten massiv kritisiert worden war.

Operativ funktioniere die Zusammenarbeit zwar gut. Die NATO müsse im Lichte des Engagements der Vereinigten Staaten aber neu bewertet werden. Europa stehe am Rande des Abgrunds und laufe Gefahr, nicht mehr selbst über sein Schicksal bestimmen zu können. Es müsse aufwachen und sich selbst mehr um seine eigene Verteidigung kümmern, sagte Macron. In dem Gespräch, das nach Angaben des Magazins bereits Ende Oktober geführt wurde, zweifelte Macron offen an, ob ein Angriff auf ein NATO-Mitglied heute als Angriff auf alle betrachtet würde.

Auf die Frage, ob er noch an den Bündnisfall-Artikel des NATO-Gründungsvertrags glaube, antwortete er: „Ich weiß nicht.“ Die NATO funktioniere nur, wenn der Garant der letzten Instanz als solcher funktioniere. Man sollte die Realität der NATO angesichts des US-Engagements neu bewerten. Es gebe Anzeichen, dass die USA „uns den Rücken kehren“, wie die Entscheidung von Präsident Donald Trump für einen Truppenabzug aus Nordost-Syrien ohne Konsultation der Verbündeten zeige.

Der Truppenabzug hatte den Weg für die umstrittene Militäroffensive des NATO-Mitglieds Türkei gegen die syrische Kurdenmiliz YPG geebnet und die europäischen NATO-Mächte Frankreich, Großbritannien und Deutschland überrascht. Macron hatte den Schritt als einen schweren Fehler der NATO kritisiert, weil die Glaubwürdigkeit des Schutzes westlicher Partner geschwächt worden sei. Zudem argumentiert er, die Europäer sollten aufhören, im Nahen Osten als Juniorpartner der USA zu agieren.

Die YPG-Miliz war der wichtigste Verbündete der USA im Bodenkampf gegen die Islamisten-Miliz IS in Syrien. Frankreich dringt seit längerem auf eine engere militärische Zusammenarbeit der Europäer, stößt dabei aber auf den Widerstand Großbritanniens und anderer NATO-Staaten. Sie argumentieren, die USA blieben die Schlüsselmacht in der westlichen Verteidigung - vor allem in Hinblick auf das Erstarken Russlands.