TT-Interview: Neue Bewohner für die Alpentäler
Die Gemeinden Lesachtal, Kartitsch, Obertilliach und Untertilliach präsentieren erste Ergebnisse ihrer Zusammenarbeit bei einem Talschaftsfest. Spannender Vortrag „Chancen und Zukunft alpiner Täler“.
Lesachtal, Kartitsch, Obertilliach, Untertilliach – Morgen veranstalten die vier Gemeinden im Osttiroler Gailtal bzw. im Kärntner Lesachtal erstmals ein Talschaftsfest. Über die Bundesländergrenze hinweg wollen die Ortschaften einen gemeinsamen Lebensraum etablieren. Dazu wurden in einem ersten Schritt Arbeitsgruppen gebildet, die in den Bereichen Tourismus, Landwirtschaft, Angestellte und Wirtschaftstreibende sowie Familie bestehende Übereinstimmungen und mögliche gemeinsame Ziele untersucht haben.
Die Ergebnisse werden beim Talschaftsfest erstmals der Bevölkerung vorgestellt. Der Innsbrucker Universitätsprofessor Ernst Steinicke (Institut für Geografie) hält einen Vortrag zum Thema „Chancen und Zukunft alpiner Täler“. Die Tiroler Tageszeitung hat Steinicke vorab um ein Interview gebeten.
Sterben die alpinen Täler in Zukunft langsam aus?
Ernst Steinicke: Nein, wie wir aus langjährigen Untersuchungen in Frankreich, Italien und Slowenien wissen, ist in den letzten Jahrzehnten sogar das Gegenteil der Fall. Menschen finden die abgelegenen Landstriche zunehmend attraktiv und besiedeln sogar völlig verlassene Geisterstädte, um dort zu leben.
Gilt das auch für die österreichischen Alpen?
Steinicke: Bisher nur bedingt, wobei ich betonen muss, dass unser Forschungsteam DCA (Demographic Change of the Alps) sich die Situation in Österreich erst genau anschauen wird. Dank des Tourismus ist es bei uns um die Lebensgrundlagen in den alpinen Tälern nicht so schlecht bestellt wie in den benachbarten Ländern. Eben deshalb haben wir dort geforscht.
Was sind die Voraussetzungen, damit sich Zuwanderer ansiedeln?
Steinicke: Es gibt das Phänomen, dass sich mögliche Interessenten einen zweiten oder gleich mehrere Wohnsitze schaffen und anfangs zwischen diesen pendeln. Ermöglicht ihnen ihre Arbeitsplatzsituation durch technische Erschließung ein Leben in der Abgeschiedenheit, etwa weil sie nur einmal pro Woche in eine größere Stadt auspendeln müssen, verlegen diese Leute auch gerne ihren permanenten Wohnsitz in Randregionen. Ich war im Jahr 2002 in den USA und habe das dort verfolgen können. Seit 2003 untersuchen wir die Situation in den Alpen, bis in den Westkaukasus und in das Atlasgebirge. Auch in Südamerika beobachten Kollegen dieselbe Entwicklung. Vor drei Jahren waren Japaner im Tiroler Gailtal zu Besuch, um sich mit den Bürgermeistern auszutauschen. Im März soll in Japan sogar ein Kongress dazu stattfinden.
Kaufen diese neuen Gebirgsbewohner tatsächlich Anwesen und Brachland?
Steinicke: Selbstverständlich – das ist eine weitere Voraussetzung. Die Nachfrage ist da, und diese Leute wollen auch ernsthaft arbeiten und zum Teil Landwirtschaft betreiben. Der Preis muss allerdings realistisch sein, sonst lässt sich das nicht angehen. Mancherorts wird einem Besitz geradezu nachgeworfen. In vielen Tiroler Tälern sind wir davon noch weit entfernt. Außerdem verschweigt man den tatsächlichen Leerstand bisher häufig.
Gibt es Argwohn bei der angestammten Bevölkerung?
Steinicke: Je größer das Bewusstsein in der Bevölkerung, dass ihr die neuen Siedler nichts Böses wollen, umso weniger. Wenn nur noch eine Handvoll Alte übrig sind, freuen die sich natürlich über junges Leben für ihren Ort. Diese Zuwanderer sind keine verträumten Hippies, sondern ein ernstzunehmender Zugewinn für alpine Täler.
Gibt es Beispiele dafür?
Steinicke: Sicher. Das Dorf Dordolla im friulanischen Aupatal zählte im Jahr 1951 300 Einwohner. Um die Jahrtausendwende waren es nur noch fünf. Die neuen Gebirgsbewohner brachten wieder Bevölkerungsgewinne, im Jahr 2017 zählte man wieder 69 Einwohner.
Wie viele müssen sich für eine Trendumkehr ansiedeln?
Steinicke: Für ein kleines Dorf genügt manchmal schon einer, der neues Wissen mitbringt und sich und andere für die Lebensqualität im alpinen Naturraum begeistert, ohne dabei die Arbeit zu scheuen. Allerdings sehen wir im Klimawandel auch eine Bedrohung für die Wiederbesiedelung durch Stadtflüchtlinge: Naturkatastrophen können diese wieder vertreiben.
Das Interview führte Christoph Blassnig