Kurz kritisiert „westliche Arroganz“ gegenüber Osteuropa
ÖVP-Chef Sebastian Kurz hat im Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vor tiefer werdenden Gräben zwischen Ost- und Westeuropa gewarnt. „Es ist die teilweise vorhandene westliche Arroganz, die ein Stück weit die Ressentiments in Osteuropa stärkt und die leider Gottes auch in den Bevölkerungen Westeuropas teilweise dazu führt, dass man auf die Osteuropäer herabschaut“, so Kurz.
Zwar dürfe es hinsichtlich der Grundwerte wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie „keinen Verhandlungsspielraum geben“, unterstrich Kurz. „Das ist Basis der EU. Dass in der Migrationskrise einige Staaten versucht haben, andere zu einer Politik der offenen Grenzen zu zwingen, hat die Gräben in Europa sicherlich tiefer werden lassen.“
Aber: „Ich halte nichts von einer Politik des erhobenen Zeigefingers und der moralischen Überlegenheit“, so der frühere Bundeskanzler. Er sprach in diesem Zusammenhang von einer „gefährlichen Entwicklung“.
Der Blick zurück zeige nicht nur, wo etwas falsch gemacht worden sei. „Betrachtet man die wirtschaftliche Entwicklung in Polen, Ungarn, der Tschechischen Republik oder der Slowakei auf der einen Seite und in Italien auf der anderen Seite, dann merkt man, dass ein klarer marktwirtschaftlicher Zugang funktioniert, dass aber viele Förderprogramme ins Leere laufen.“
Es sei „richtig, dass wir Druck machen, was Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit in einigen osteuropäischen Ländern betrifft. Es ist aber auch legitim, einmal auszusprechen, dass die Ungarn und die Polen im vergangenen Jahr ein Wirtschaftswachstum von rund fünf Prozent zustande gebracht haben.“
Kurz sagte in dem Interview auch, er würde davor warnen, so zu tun, als gäbe es „antieuropäisches Gedankengut“ nur in Osteuropa. „Es gibt es auch im Westen - Gott sei Dank nicht in der Mehrheit. Aber wenn ein Osteuropäer einen Vorschlag macht, dann ist das nicht automatisch ein Schlechtreden der EU. Und nicht jeder Vorschlag eines Gründungsmitglieds ist automatisch ein mutiges europäisches Vorangehen.“
Er habe das Gefühl, „dass hier teilweise mit zweierlei Maß gemessen wird“, sagte Kurz. „Kürzlich wurde über die Erweiterung der EU auf dem Westbalkan entschieden. Nordmazedonien und andere Staaten haben sich wirklich um Reformen bemüht und verdienen eine europäische Perspektive. Wir sollten vorsichtig sein, sie nicht an die Türkei, Russland oder China zu verlieren. Die Staaten, die diesmal dagegen waren, waren nicht die immer als antieuropäisch gescholtenen Osteuropäer“, so der ÖVP-Chef in Anspielung auf den jüngsten Aufschub des Starts der EU-Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien und Albanien nach Vorbehalten Frankreichs, Dänemarks und der Niederlande. Kurz sprach von einer „absolut falschen Entscheidung“: „Ich hoffe sehr, dass sie zügig revidiert werden kann.“
Die deutsche Wiedervereinigung ist für Kurz ein „Wendepunkt nicht nur der deutschen, sondern der europäischen Geschichte“ und ein „unglaubliches Projekt, das beeindruckend gemeistert wurde“. Sorgen mache ihm aber, „dass es in den Köpfen weiterhin Mauern gibt: anscheinend ein Stück weit immer noch zwischen Ost- und Westdeutschland, mehr und mehr aber auch zwischen Ost- und Westeuropa. Das ist eine dramatische Fehlentwicklung, die dringend gestoppt werden muss.“