Der Brexit schafft auch politische Freiräume
Martin Selmayr, Brüsseler Insider und Kommissionsvertreter in Wien, über die politische Großwetterlage zum Start seiner neuen Chefin.
Von Floo Weißmann
Brüssel –Wenn die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Sonntag formal antritt, hat sich die politische Großwetterlage im Vergleich zu ihrem Vorgänger Jean-Claude Juncker in vielerlei Hinsicht verändert. Großbritannien spielt im EU-Konzert nicht mehr mit; US-Präsident Donald Trump legt sich mit den europäischen Verbündeten an; der Klimawandel ist bei vielen Bürgern an die Spitze der Sorgen-Liste geklettert; und die Mehrheitsverhältnisse im EU-Parlament sind komplizierter geworden.
Als „historisch wichtigste Änderung“ bezeichnet der neue Kommissionsvertreter in Wien, Martin Selmayr, aber die Tatsache, dass erstmals eine Frau an der Spitze steht. Er verbindet das mit einem neuen Führungsstil und einer „moderneren Verwaltung“.
Selmayr hat in den vergangenen Jahren als Junckers Kabinettschef und als Generalsekretär der Kommission auch selbst Brüsseler Fäden gezogen. Er erwartet, dass vor allem der Austritt Großbritanniens (nach derzeitigem Stand Ende Jänner) die politische Dynamik in der EU verändert.
In den vergangenen Mandatsperioden habe London nicht nur mitgestaltet, sondern auch oft gebremst oder Sonderregelungen verlangt. „Das hat die europäische Politik sehr stark beschäftigt, und es wurde stets auch viel Rücksicht auf die britischen Wünsche genommen“, sagt Selmayr. Dass Großbritannien nicht mehr mit am Tisch sitzt, sei sehr bedauerlich. Es schaffe aber auch politische Freiräume – etwa in der Verteidigungs- und Sozialpolitik.
Die Erfahrung des Brexits könne zugleich den Zusammenhalt in Europa stärken, so Selmayr im TT-Gespräch. Der Austritt Großbritanniens werde in den kommenden Jahren noch deutlicher machen, „dass Europa kein Supermarkt ist, in dem man sich aus dem Regal herausnimmt, was einem gerade passt, sondern dass es eine ausgewogene Gesamtkomposition ist“.
Das gilt nach innen für Themen wie Klimawandel, Digitalisierung und EU-Reform, die von der Leyen zuerst anpacken will. Und nach außen für Europas Auftritt auf der globalen Bühne. „Die Welt wird nicht nur durch das Verhalten der USA, sondern auch anderer wichtiger Mächte wie China und Russland zunehmend unsicher“, sagt Selmayr. Europa werde nur dann selbst Macht ausüben und seine Bürger schützen können, „wenn wir geeint sind und uns viele Partner suchen“.
Die Einheit herzustellen, kann allerdings in Zukunft schwieriger werden. Das EU-Parlament ist so vielfältig wie nie zuvor; für eine Mehrheit braucht es Unterstützung aus den drei bis vier größten Fraktionen. Die europäische Demokratie sei nach der Europawahl „noch herausfordernder geworden“, sagt Selmayr. Zugleich sieht er in den neuen Mehrheitsverhältnissen auch eine Art Normalisierung. „Es ist der Regelfall der Demokratie geworden, dass man sich in Parlamenten nicht mehr auf (nur) zwei Parteien verlassen kann.“
Was die Zusammenarbeit der Kommission mit dem Rat der nationalen Regierungen betrifft, in dem auch EU-Skeptiker sitzen, hält Selmayr die kommenden fünf Jahre hingegen für „nicht schwieriger und komplexer als die vergangenen fünf Jahre“. Es gebe in jeder Mandatsperiode schwierige Phasen. „Wichtig ist, dass man nicht jede Meinungsverschiedenheit zur Krise hinaufdramatisiert und dass am Ende ein Kompromiss herauskommt.“