Denis Scheck im TT-Interview: „In der Literatur kann man Trost finden“
Denis Scheck moderiert TV-Literatursendungen. Ein Gespräch über die 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur und radikale Ideen, wie man Menschen zum Lesen bringen könnte.
Im ARD-Literaturmagazin „Druckfrisch“ sprechen Sie regelmäßig über neue Bücher. Nun haben Sie selbst ein Buch geschrieben, das Ihre persönliche Hitliste der 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur vorstellt. Wie kam es dazu?
Denis Scheck: Das Bedürfnis nach literarischer Orientierung ist riesig. Ich habe mir zwei Jahre lang Woche für Woche eine Liste gemacht und überlegt, welche Bücher für mich essenziell sind. Rasch stellte ich fest, wie viele Werke fehlten, etwa Max Frisch, Robert Musil oder Friedrich Dürrenmatt. Natürlich weiß auch ich, dass die einzigen kanonisierenden Institutionen die Zeit und die Gesellschaft sind, in der wir leben. Es ist also eine ziemlich größenwahnsinnige Unternehmung, wenn ein einzelner Literaturkritiker einen Kanon der Weltliteratur von Homer bis „Tim und Struppi“ vorlegt. Ich wollte aber einen Beitrag zu einer sehr lustigen literarischen Debatte liefern, die schon seit dreitausend Jahren tobt – eben der Kanondebatte.
Nach welchen Kriterien haben Sie diese Bücher ausgewählt?
Veranstaltungshinweis:
Montag, 2. Dezember 2019, Beginn: 19.30 Uhr
Buchhandlung Tyrolia, Maria-Theresien-Straße, Innsbruck
Eintritt: 9 Euro
Scheck: Ich habe einen Goldstandard: Alle Bücher, die in meinem Kanon vorkommen, mussten in der Lage sein, eine Frage zu beantworten, nämlich wie sie meine Sicht auf die Wirklichkeit nachhaltig verändert haben. Denn für mich ist klar: Man sieht die Welt anders, wenn man Samuel Beckett oder Franz Kafka gelesen hat.
Sie schreiben aber auch, dass Donald Duck Ihren Blick auf die Welt verändert hat.
Scheck: Ja, ganz enorm. Mir geht es aber um den deutschen Donald Duck, den man mit „u“ ausspricht. Die Übersetzerin Dr. Erika Fuchs hat die Sprechblasen der Entencomics von Carl Barks in das Stahlbad der deutschen Klassik getaucht. Wenn also Donald Duck in einer Geschichte vom Theaterfimmel ergriffen wird, dann zitiert er bei Barks Shakespeare, bei Fuchs aber Schiller. Schillers Wallenstein ist mir nicht erstmals auf der Bühne begegnet, sondern in Form einer rätselhaften Sprechblase eines Comics, den ich in meiner Kindheit gelesen habe. Diese Entengeschichten sind für mich ein herausragendes Sprachkunstwerk.
Worauf haben Sie bei Ihrer Auswahl noch geachtet?
Scheck: Ich habe einen „wilden“ Kanon vorgelegt, in dem es weder Geschlechtergrenzen noch Genregrenzen gibt. Für mich zählen Science Fiction, Horror- und Kinderbücher, ja sogar Sachbücher zum Kanon der Weltliteratur. Übersetzungen sind mir auch besonders wichtig, denn für mich sind Übersetzer die Helden des Literaturbetriebs. Sie sorgen dafür, dass wir nicht im Mustopf unserer Nationalliteratur sitzen, sondern auch internationale Literatur lesen dürfen.
Sie trafen einmal den Entertainer Stefan Raab. Er sagte Ihnen, er würde am liebsten Sachbücher lesen, weil er keinen Sinn darin sehe, sich mit „erfundenen Problemen erfundener Figuren“ zu beschäftigen. Was sagen Sie dazu?
Scheck: Es ist ein Irrtum, dass wir als Menschen zur Welt kommen. Wir müssen uns erst zum Menschen bilden. Literatur ist die Arena, in der wir unser Wertesystem trainieren können, wo wir unsere Empathiefähigkeit entwickeln und wo wir die magische Fähigkeit besitzen, buchstäblich aus unserer Haut zu fahren, um die Welt einmal anders wahrzunehmen, etwa aus der Perspektive eines Däumlings, eines Riesen oder aus der Perspektive eines Tieres. Diesen Erkenntnisgewinn bietet Literatur.
Sie sagen, Literatur sei kein sicherer Ort. Warum?
Scheck: Weil Literatur sehr viele Zumutungen enthält. Ein Buch wirkt so harmlos, aber man weiß nie, was geschieht, denn Texte können einen in allen lieb gewonnenen Denkmustern nachhaltig erschüttern. Sie können einen mit Verdrängtem konfrontieren. So mancher hat schon ein Buch zugeschlagen und sich von seinem Lebenspartner getrennt.
Literatur spendet aber auch Trost. Sie schreiben, Ihnen „hätte sie sogar manchmal das Leben gerettet“.
Scheck: Ja, das stimmt. Natürlich erfährt man im Laufe seines Lebens viele Zurückweisungen. Man braucht also etwas, um sich über Niederlagen hinwegzutrösten und aufs erneute Scheitern vorzubereiten. In der Kunst, in der Musik und eben auch in der Literatur kann man Trost finden. Eine Flasche Rotwein kann auch trösten, aber das ist auf die Dauer sicherlich nicht gesund. (lacht)
Sie haben eine recht radikale Idee, wie man Menschen zum Lesen bringen könnte. Sie lautet: „Keine Stimme für Nichtleser wäre ein erster politischer Schritt, kein Sex für Nichtleser wäre noch effektiver.“
Scheck: Ja, genau (lacht) Ich finde Menschen, die sich nicht die Zähne putzen, mindestens genauso unappetitlich wie Menschen, die keine Gedichte lesen. Ich möchte auch keinen Sex haben mit Leuten, die nicht lesen. Wenn wir es also alle so halten, dann würde sich die Zahl der Leser bestimmt stark vermehren.
Wozu sollte man einen Literaturkanon erstellen? In unserer Gesellschaft behaupten viele, einen ganz eigenen Geschmack zu besitzen.
Scheck: Ich glaube nicht, dass man einen Geschmack entwickeln kann, der frei von äußeren Einflüssen ist. Ich koche zum Beispiel sehr gerne und man weiß, dass die erste Geschmacksprägung schon im Mutterleib beginnt. Auf diese Weise vererben sich kulinarische Traditionen. Literatur kann dabei helfen, die Fesseln, mit denen man auf das Rad des Zeitgeists geschmiedet ist, zu lösen, aber es ist nicht möglich, sich vom Zeitgeschmack gänzlich zu lösen.
Apropos Kochen: Haben Sie auch einen Kanon Ihrer besten Gerichte?
Scheck: Aber klar. Ich habe schon zwei Bücher über die Entwicklung des Geschmacks geschrieben und über das Konzept der Reife sowohl in der Philosophie wie in der Kulinarik. An diesem Thema werde ich definitiv dranbleiben.
Da Sie sich so für Kulinarik begeistern können: Würden Sie mir Ihr Lieblingsgericht verraten?
Scheck: Ich liebe frittierte Zucchiniblüten gefüllt mit Ricotta, verfeinert mit Orangen- und Zitronenzesten. Mit diesem Gericht kann man mich sehr glücklich machen.
Das Gespräch führte Gerlinde Tamerl