Absolute Mehrheit für Johnsons Tories in Großbritannien
Großbritannien befindet sich nach einem Triumph der regierenden Tories auf dem Weg zu einem raschen EU-Austritt im Jänner. Die Partei von Premierminister Boris Johnson errang bei der Unterhauswahl am Donnerstag eine deutliche absolute Mehrheit und kann damit ihr Versprechen einlösen, „den Brexit durchzuziehen“. Labour-Chef Jeremy Corbyn erklärte noch in der Wahlnacht seinen Rückzug.
Die Tories überschritten bereits vor Abschluss der Auszählung die Schwelle von 326 der 650 Unterhaussitze. Laut einem vom Fernsehsender Sky News veröffentlichten Zwischenergebnis erhielten sie 357 der 639 ausgezählten Mandate, während die Labour Party bei 202 Mandaten lag. Fernsehsender sagten der Regierungspartei ein Endergebnis von rund 360 Sitzen voraus.
Johnson wertete den sich abzeichnenden Erdrutschsieg der Tories als „historisch“ und „mächtiges Mandat für den Brexit“. Die britische Regierung habe nun die Gelegenheit, „den demokratischen Willen des britischen Volkes zu respektieren“. Mit der Arbeit daran werde man schon „heute“ beginnen, sagte Johnson bei der Verkündung des Ergebnisses in seinem Londoner Wahlkreis. Johnson hatte die vorgezogene Wahl angesetzt, um eine Mehrheit für seinen Austrittsdeal mit der EU zu bekommen. Er wolle nun den Brexit „fristgerecht zum 31. Jänner erledigen“, sagte Johnson. Mit dem klaren Sieg sei ein zweites Referendum über den Austritt aus der EU nun eindeutig vom Tisch. Er werde das Land einen, versprach Johnson.
Die Labour Party konnte sich immerhin über der symbolischen Marke von 200 Mandaten halten, verlor aber 60 Sitze im Vergleich zur Wahl 2017. Es handelte sich um den geringsten Mandatsstand seit dem Jahr 1935. Corbyn zog bei der Verkündung des Ergebnisses in seinem Londoner Wahlkreis Islington die Konsequenzen. „Ich werde die Partei nicht in eine weitere Wahl führen“, sagte der Oppositionsführer. Die Vorschläge von Labour seien „außerordentlich populär“ gewesen, doch habe der Brexit das Land polarisiert und soziale Themen überdeckt. „All diese Fragen werden wieder in den Mittelpunkt zurückkehren“, betonte er.
Zuvor hatten mehrere Labour-Spitzenpolitiker Corbyn zum sofortigen Rücktritt aufgefordert. „Das ist die Schuld eines Mannes. Seine Kampagne, sein Wahlprogramm, seine Führung“, schrieb die langjährige Labour-Abgeordnete Siobhain McDonagh. „Labour muss entgiftet werden“, meinte die im Wahlkreis Stoke-on-Trent North abgewählte Mandatarin Ruth Smeeth.
Die ersten Ergebnisse der Wahlnacht hatten ein „Blutbad“ in bisherigen Labour-Hochburgen in Nordengland gezeigt. Die Konservativen konnten dabei mehrere Sitze gewinnen, die bisher immer von Labour besetzt worden waren. Prominentestes Opfer des Tory-Angriffs auf die „rote Mauer“ war der 87-jährige Abgeordnete Dennis Skinner, der seinen seit dem Jahr 1970 durchgehend gehaltenen Sitz im Wahlkreis Bolsover an den Konservativen Mark Fletcher abgeben musste.
Johnson hatte in den Labour-Hochburgen erfolgreich mit seinem Versprechen, „den Brexit durchzuziehen“, um europakritische Wähler geworben. Zugleich gelang es der Oppositionspartei nicht, wesentliche Gewinne in europafreundlichen Wahlkreisen zu verbuchen. Anders als erhofft kam es dort nicht zu taktischen Stimmabgaben, weswegen mehrere prominente Tory-Abgeordnete ihre Mandate retten konnten.
Ein Wahldesaster setzte es auch für die pro-europäischen Liberaldemokraten, die den EU-Austrittsantrag rückgängig machen wollten und nur bei rund zehn Mandaten landeten. Ihre Chefin Jo Swinson verlor sogar ihren Sitz im schottischen Dunbartonshire East an die Schottische Nationalpartei (SNP), die rund 50 der 59 schottischen Sitze einsammeln dürfte. SNP-Chefin Nicola Sturgeon sagte mit Blick auf das Ergebnis in Schottland, dass Premier Johnson kein Mandat habe, den Landesteil aus der EU zu führen. „Schottland muss eine Wahl über seine Zukunft bekommen“, forderte sie ein neuerliches Unabhängigkeitsreferendum.
Einen Denkzettel für ihren Brexit-Kurs erhielten auch die nordirischen Unionisten, deren Vizechef Nigel Dodds abgewählt wurde. Erstmals seit der Teilung der Insel im Jahr 1921 dürfte Nordirland damit mehr irisch-nationalistische Abgeordnete haben als Unionisten. Die Grünen behielten ihren Sitz, die Brexit Party von EU-Gegner Nigel Farage ging leer aus.
Der Brexit-Vorkämpfer sagte der BBC am Wahlabend: „Wir werden den Brexit bekommen, aber es wird vielleicht nicht der richtige Brexit sein.“ Dem Sender Sky gegenüber äußerte Farage die Befürchtung, dass Johnson wegen seiner großen Mehrheit einen weichen Brexit-Kurs fahren könnte. Die große Mandatsmehrheit bedeute nämlich, „dass der Einfluss (der Brexit-Hardliner) geringer sein wird“, sagte Farage. Konkret äußerte er die Erwartung, dass die nach jetzigem Stand Ende 2020 auslaufende Brexit-Übergangsperiode um zwei Jahre verlängert werde.
EU-Politiker zeigten sich erleichtert von dem sich abzeichnenden klaren Wahlausgang. EU-Ratspräsident Charles Michel sagte, dass die Union nach der Ratifizierung des Austrittsabkommens durch das Parlament „für die nächsten Schritte bereit“ sei. „Ich gehe davon aus, dass damit der Weg geebnet ist zu einem geordneten Austritt“, sagte Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein am Rande des EU-Gipfels in Brüssel.
Ähnlich äußerte sich der schwedische Ministerpräsident Stefan Löfven. Das Wahlergebnis sei „klar“. Das bedeute, dass die Trennung durchgezogen werde, so Löfven, der darauf hinwies, dass nur wenig Zeit - elf Monate - für das Ausverhandeln eines Handelsabkommens zwischen der EU und Großbritannien bleibe. Die französische Europastaatsministerin Amelie de Montchalin sagte, eine stabile Mehrheit sei das, „was im Vereinigten Königreich seit einigen Jahren gefehlt hat“.
Die Unterhauswahl hielt auch US-Präsident Donald Trump wach. Kurz vor Mitternacht Ortszeit setzte er einen Tweet mit folgendem Wortlaut ab: „Sieht nach einem großen Sieg für Boris im Vereinigten Königreich aus!“ Trump hatte im britischen Wahlkampf mit seiner Warnung vor Corbyn für Aufsehen gesorgt, aber auch mit angeblichen Plänen, den nationalen Gesundheitsdienst NHS in den künftigen Handelsdeal zwischen London und Washington einzubeziehen.