„Märkte sind soziale Konstrukte“
In seinem neuen Buch „This is not Economy“ fordert Gemeinwohl-Ökonom Christian Felber eine Revolution der Wirtschaftswissenschaften. Im Gespräch mit der Tiroler Tageszeitung erklärt er, warum.
Als die Weltwirtschaft 2008 in die Krise stürzte, stellte Queen Elizabeth eine naheliegende Frage: „Why did nobody notice it?“
Christian Felber: Die Krise wurde vorhergesagt. Aber nicht vom Mainstream der Wirtschaftswissenschaft, nicht von der neoklassischen Theorie, sondern von so genannten alternativen oder heterodoxen Wirtschaftswissenschaftern.
Heterodox lässt sich mit „abweichend“ übersetzen.
Felber: Ja. Heterodoxe Ökonomen nützen andere Werkzeuge und andere Modelle als der Mainstream. Sie haben einen breiteren Theorie-Hintergrund, arbeiten interdisziplinär. Vor allem aber haben sie kein naturwissenschaftliches Verständnis von Märkten. Das heißt, sie verstehen Märkte als soziale Konstruktionen. Und sie wissen, dass die Entwicklung von Märkten von verschiedenen Faktoren abhängt. Wenn man möglichst viele dieser Einflussfaktoren berücksichtigt, dazu gehören die Herausbildung von Macht, das Mitspielen von Emotionen und – ganz wichtig – die Umwelt, lässt sich ein ganzheitlicheres Bild denken. Und damit tun sich ganzheitliche Menschenhirne immer noch leichter als jedes mathematische Modell.
Warum wurden die „Abweichler“ nicht gehört?
Felber: Die einzig logische Antwort auf diese Frage ist, dass der Mainstream-Wissenschaftsbetrieb nicht nach den üblichen Kriterien der Wissenschaftlichkeit funktioniert. Wissenschaftlichkeit heißt: offen sein für alternative Ansätze, Sichtbarmachen von Pluralität. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive: Selbstverständlichkeiten. Wenn man sich aber als Naturwissenschaft versteht, gibt es zum Gesetz der Schwerkraft keine Alternative. Und wenn man nun glaubt, ein Gesetz der Schwerkraft für die Märkte gefunden zu haben, wird man unempfänglich für alternative Sichtweisen. Aber die Verwechslung einer sozialwissenschaftlichen Disziplin mit einer Naturwissenschaft ist nur ein Aspekt. Der zweite Grund ist, dass die neoklassische Theorie sich vorbildlich eignet, um das gegenwärtig vorherrschende Wirtschaftssystem, die kapitalistische Globalisierung, zu legitimieren. Die Folge ist eine gigantische systemische Verirrung.
Das müssen Sie, glaub’ ich, genauer ausführen.
Felber: Eine Herrschaft wird legitimiert und Veränderungen blockiert. Wenn die Wirtschaftswissenschaft ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nachkommen würde, gäbe es die „Fridays For Future“-Demos nicht. Anstatt Lösungen für die globalen Probleme anzubieten, sind die Probleme von der Wirtschaftswissenschaft mitverursacht worden.
Inwiefern?
Felber: Schauen wir uns eine solche Kette pseudowissenschaftlicher Glaubenssätze an. Erstens: Menschliche Bedürfnisse sind unendlich. Zweitens: Zur Befriedigung dieser unendlichen Bedürfnisse müssen Produktionsmittel effizient eingesetzt werden. Drittens: Das Ergebnis dieses Einsatzes ist immerwährendes Wirtschaftswachstum. Und, Glaubenssatz Nummer vier: Wenn die Wirtschaft wächst, wird das Verteilungsproblem, das Armutsproblem und sogar das Umweltproblem gelöst. Diese Kette ist das Problem – keine Lösung. Und das Problem kulminiert dann im Versuch der türkis-blauen Regierung, das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes als Staatsziel in der Verfassung zu verankern.
Was wäre die Lösung?
Felber: In meinem Buch „This is not Economy“ versuche ich zu zeigen, dass das übergeordnete Ziel der Wirtschaft immer das Gemeinwohl war, beginnend bei der Oikonomia der alten Griechen über Adam Smith bis heute etwa in der Verfassung Bayerns: „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl.“ Jetzt kommt aus der Wirtschaftswissenschaft, die sich als Physik versteht und nur das Quantifizierbare misst, die Fixierung auf das Bruttoinlandsprodukt. Das wird der Politik als Maßstab aufgeschwatzt. Österreich wäre das erste Land weltweit gewesen, in dem Wachstum Verfassungsrang hat. Zu einem Zeitpunkt, wo anderswo alternative Indikatoren für wirtschaftlichen Erfolg erprobt werden: Gegen den wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream haben sich Schottland, Dänemark und Neuseeland explizit vom Bruttoinlandsprodukt als Erfolgsmaß einer Volkswirtschaft abgewandt.
In Ihrem Buch fordern Sie eine Revolution der Wirtschaftswissenschaften. Wie soll die aussehen?
Felber: Wie in jeder wissenschaftlichen Revolution wird ein bisheriges Glaubenssystem durch ein realistischeres Annahmengebäude ersetzt. Die Wirtschaftswissenschaft muss realistischer werden – und sich von unbelegten Behauptungen lösen: „Der Mensch kennt keine Sättigung.“ Wenn ich gegessen habe, bin ich satt. Viele Annahmen sind von anderen Disziplinen empirisch widerlegt. Diese Erkenntnisse müssen angenommen werden. Und die Ökonomie muss erkennen, dass sie eine Sozialwissenschaft ist. Dann wird alles entspannter: Dann muss man keinen Marktmechanismus mehr beschwören, sondern kann von Markt-Design reden. Und das bedeutet, vereinfacht gesagt, dass wir Märkte so entwerfen können, dass sich nicht mehr das Schädigen der Umwelt und des Miteinanders lohnt, sondern der Schutz von Grundwerten.
Das Gespräch führte Joachim Leitner